Theoriebildung – bezogene Individuation
1. Das Konzept geht auf Helm Stierlin zurück (Ritscher S. 9 / Simon S. 147 / Schlippe S. 37) und bezieht sich auf die Beziehung zwischen Eltern und Kindern.
- Das Konzept kann auch auf die Beziehung von Paaren angewendet werden, die zwischen Bezogenheit aufeinander und Autonomie für sich (Individuation und Entwicklung der eigenen Person) hin und her pendeln. (Retzer S. 32) Die Bezogenheit dürfte am stärksten in der Phase einer gegenseitigen Verliebtheit sein …
3. „Individuation mit“ beschreibt den Vorgang der Individuation, der konflicktfrei entsteht, wie beispielsweise das Erlernen die Sprache, die das Kind in seiner Bezogenheit auf die Mitter von dieser annimmt und darüber immer selbständiger kommunizieren lernt (Individuation). (Stierlin 2007. S. 58)
4. „Individuation gegen“ wird benutzt, wenn die eigene Meinung oder das Verhalten gegen andere, gegen Normen etc. vertreten wird. Die Herstellung dieser Differenz kann es z. B. ermöglichen, sich über den nächsten Individuationsschritt klar zu werden. (Stierlin 2007. S. 63)
- Individuation in einer Mehrgenerationsperspektive (Stierlin 1982)
– Delegation ist die Beeinflussung durch vorangehende Generationen. Es gibt Familien, in denen über Generationen, bestimmte Aufträge delegiert und weitergegeben werden. Das kann z. B. Familienunternehmen betreffen oder Musikerdynastien etc. Solange die Interessen und Talente der jeweils nächsten Generation passen, wird alles gut gehen, was aber wenn nicht?!
– „Individuation gegen“ konstruiert eine sogenannte Gegenabhängigkeit gegen die älteren Generationen und kann die Bindung an die tradierten Muster sogar verstärken.
– „Individuation mit“ bedeutet hier, dass sich auf älteren Generationen und ihre Vorschläge, Absichten, Erwartungen eingelassen wird und sie zur weiteren Individuation und Autonomieentwicklung widerspruchsfrei genutzt werden können.
Für die hier angesprochenen Arbeitskontexte Jobcenter und Bewo wird die Zuwendung zu der Mehrgenerationenperspektive eines Kunden/Klienten kaum eine Rolle spielen. Mir begegnete dies jedoch häufiger in der Suchthilfe. (Stachowske)
Literatur
Wolf Ritscher. Das Tun des Einen ist das Tun des Anderen. Helm Stierlins Beiträge zur Entwicklung von Theorie und Praxis der Familientherapie. In Zeitschrift KONTEXT 37,1 (2006), S. 5–22 PDF Download.
Fritz B. Simon/Ulrich Clement/Herlm Stierlin. Die Sprache der Familientherapie. Ein Vokabular. Kritischer Überblick und Integration systemtherapeutischer Begriffe, Konzepte und Methoden. Stuttgart 2004
Arist von Schlippe / Jochen Schweitzer. Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung I. Das Grundlagenwissen. Göttingen 2012
Arnold Retzer. Systemische Paartherapie. Konzepte – Methode – Praxis. Stuttgart 2005
Helm Stierlin. Gerechtigkeit in nahen Beziehungen. Systemisch-therapeutische Perspektiven. Heidelberg 2007.
Helm Stierlin. Delegation und Familie. Beiträge zum Heidelberger familiendynamischen Konzept. Berlon 1982
Ruthard Stachowske. Mehrgenerationentherapie und Genogramme in der Drogenhilfe: Drogenabhängigkeit und Familiengeschichte. Kröning 2002
Erstaunlich; dass eine „Individuation gegen“ eine „Gegenabhängigkeit“ konstruiert und nicht Ausdruck einer womöglich sinnvollen Autonomiebestrebung ist..
Lieber Rainer, meine Frage ist: was wäre eine „sinnvolle“ Autonomiebestrebung? Also eine, die „Sinn“ macht, aber und für wen?
Da kommen 3 in Frage:
1) der junge Erwachsene.
2) seine Eltern.
3) die Beziehung (Eltern – Sohne/Tochter).
Unter systemischer Sicht kommt für mich die Beziehung in den Blick.
Was macht dort „Sinn“? Wenn alle 3 Beteiligten eine partnerschaftliche Beziehung auf Augenhöhe entwickeln können, indem a) man kann sich verständlich machen (Aktivum) kann und b) jeder sich verstanden fühlt (Passivium).
Ich freue mich auf eine Fortsetzung der Diskussion.
Liebe Grüße Hans