Wir reduzieren (fast unzulässig) die Komplexität der Luhmannschen Systemtheorie auf jene Bestandteile, die wir für das systemische Arbeiten mit Menschen in unseren Arbeitskontexten benötigen. Die folgenden Systemaspekte gelten sowohl für soziale Systeme (Familien, Teams, Vereine, Politik etc.) als auch für psychische Systeme (Gehirn, Psyche, Persönlichkeit, Organismus).
Siehe http://luhmann.uni-trier.de/index.php?title=Gesellschaftstheorien_1:_Systemtheorie
Siehe auch die Verlinkung zu Youtube unten.
Veranschaulichen wir diese Systemtheorie am Systemspiel:
8 Personen stellen sich im Kreis auf.
Ps1 wirft den Ball zu Ps2 und soll sich dies merken.
Ps2 wirft den Ball zu Ps3 und soll sich dies merken.
Und so fort bis der Ball am Ende wieder bei Ps1 landet.
Dann kann der Vorgang nach diesem Muster fortgesetzt werden.
1. Merksatz: Nicht die Personen kommunizieren, sondern die Kommunikation (der Ball) kommuniziert. Unsere Arbeit besteht aus der Veränderung von Kommunikationen (nicht aus der Veränderung von Menschen!).
Mittels der Kommunikation ist ein System entstanden und solange die Kommunikation „läuft“ besteht das System bzw. wird durch die Kommunikation aufrechterhalten. Wenn ich dieses Spiel mit einer Seminargruppe mache, fordere ich auf, den Ball eine Weile reihum kommunizieren zu lassen. Während die Gruppe das macht, wende ich mich der beobachtenden Restgruppe zu und sage: Wir lassen die jetzt mal kommunizieren und gehen mal raus und kommen in 1/2 Stunde wieder. Meist entsteht Gelächter und der Ball fällt hin oder wird von jemand festgehalten, d. h. die Kommunikation endet. Was passiert?
Zu Beginn gab ich der Gruppe die Aufgabe, den Ball reihum zu werfen: dem Experiment wurde seitens der Gruppe, im Vertrauen auf meine Anweisung, Sinn zugeschrieben. Hätten die Restgruppe und ich die Ball-Gruppe damit alleine gelassen, wäre das mit Langeweile und Sinnverlust einhergegangen, weshalb die Ball-Kommunikation abbrach.
2. Merksatz: Systeme brauchen Sinn. Kommunikation muß Sinn machen oder Sinn erzeugen.
Langeweile: Nach Luhmann benötigen Systeme immer wieder Irritationen, um weiter bestehen bleiben zu können. Irritation meint z. B. Input von Außen. Dieser Input muß einen Unterschied, eine Differenz (daher auch Differenztheorie, siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Differenz_(Systemtheorie)) zum Bisherigen darstellen. Immer die gleichen Informationen erzeugen Langeweile. Die Kommunikation muß mit immer weiteren Differenzen weitergehen. Das gilt für alle gesellschaftlichen (sozialen) Systeme (Mode, Politik, Wirtschaft, Literatur, Musik …)
Auch psychische Systeme brauchen beständig die Beschäftigung (Kommunikation) mit neuen oder anderen Informationen, die allerdings Sinn machen und verständlich sein müssen.
Beispiel: Steckt man jemanden in Isolation, d. h. beraubt ihn jeglichen Inputs von Außen, geht das nur eine ganz begrenzte Weile gut. Dann wird der fehlende Input von Außen ersetzt durch neue Unterschiede von Innen, aus dem eigenen Organismus heraus, denn die Kommunikation muß weitergehen: man beginnt zu halluzinieren; verletzt sich selbst, um sich zu zeigen, daß man existiert; führt Selbstgespräche, um Unterschiede zu erzeugen. Aber das alles hält nur ganz begrenzt zeitlich vor, anschließend wird man desorganisiert schlichtweg verrückt, d. h. psychotisch.
Voraussetzung für die Irritation von Außen ist, daß es ein Außen (Umwelt = andere Systeme) gibt von der sich das System unterscheidet (Differenz). Das System mit der Kommunikation (Ball) kommunizierenden Gruppe unterscheidet sich von der Umwelt, der beobachtenden Restgruppe und mir.
3. Merksatz: Damit für ein psychisches (oder soziales) System die innere Kommunikation (Selbstreferenz) weitergehen kann, benötigt es fremdreferentiellen Input per Kommunikation von und mit anderen Systemen (Umwelten), so daß es einen Unterschied zum Bisherigen beobachten kann, wobei die Beobachtung des Beobachteten den Unterschied fortsetzt.
Damit man feststellen kann, ob ein Unterschied zum Bekannten existiert, bedarf es der Beobachtung der Unterscheidung. Was habe ich bisher wahrgenommen (beobachtet)?! Was kann ich beobachten, was da jetzt von Außen ankommt und macht das einen Unterschied? Und wenn es einen Unterschied herstellt, und die Situation, der Zustand etc. ein neuer bzw. anderer ist, was beobachte ich nun, was aus meiner Beobachtung von vorhin geworden ist oder was diese bewirkt (hat). Diesen komplexen Vorgang nennt man ein Re-entry. Siehe www.hyperkommunikation.ch/lexikon/re-entry
Ich weiß, das ist komplex ! Aber wir brauchen diesen Systembaustein, weil es eine Gruppe von Menschen gibt, die nicht beobachten können. Welche Kommunikationsstrategien wir daraus entwickeln können, kommt später noch – wir sind hier ja erst am Anfang.
Roland Schleiffer, Verhaltensstörungen. Sinn und Funktion, S. 17
„In diesem Band geht es um psychopathologisch relevante Störungen des Handelns und Erlebens psychischer Systeme, die anläßlich der Selbstbeobachtung anfallen und die daher die Fähigkeit zu einem Reentry voraussetzen. Dabei meint der Begriff Reentry die Wiedereinführung der Unterscheidung von System und Umwelt in das durch sie Unterschiedene, nämlich das System. Diese Fähigkeit erwirbt das Kleinkind, wenn es beobachten kann, daß es von seinen ersten Bezugspersonen in der frühen ‚affektiven Protokommunikation‘ adressiert wird. Diese unterscheiden für den Säugling nachvollziehbar zwischen ihm und dem Rest der Welt. Diese Unterscheidung übernimmt auf bislang noch kaum verstandene Weise das Kind und unterscheidet fortan zwischen sich und anderen und dann auch anderen Prronen. Bisweilen gelingt es dem Kind nicht, diese Fähigkeit zum Reentry auszubilden. Einem solchen Kind wird dann eine Störung aus dem Autismusspektrum attestiert. Diese Fähigkeit kann aber auch im späteren Lebnen verloren gehen. In einem solchen Fall läßt sich dann eine Psychose diagnostizieren.“