12.3 Wenn nichts mehr geht, beharrlich bleiben

Es gibt eine eher geringe Zahl von Jugendlichen, die während

  • der Sendepause nur ein wenig Bezogenheit zeigte, dann in Ruhephase ebenso wenig oder gar keine Bezogenheit
  • der Sendepause keine Bezogenheit und in der Ruhephase das fortsetzen.

Auch hier sollten wir in Erfahrung bringen, inwieweit das primär eine Reaktion und gleichsam ein Schutz vor elterlichen unangemessenen „Zugriffen“ auf Max ist. Wenn Eltern bei dieser Gruppe nun eher mind. 6 Monate Ruhe geben, besteht eine Chance, daß die Eltern wieder gleubwürdig werden, sich nicht mehr unangemessen oder übergriffig in Max‘ Leben einzumischen. Ein Beispiel soll eine Möglichkeit deutlich machen, die sich zw. 4 und 6 Monat abspielte:

Max macht eine Ausbildung, ist ab 6 Uhr aus dem Haus … kommt heim … geht wieder aus dem Haus und kommt spät zurück. Es ist unklar, ob Max konsumiert. Es ist aber doch anzunehmen. Es gibt kaum Kontaktpunkte zu den Eltern. Was bedeutet dies für die Zeit nach der Sendepause? Wie geht es nach 14 Tagen weiter?

Wenn wir die Situation nach dem Konzept der Bezogenen Individuation einordnen, stellen wir fest, daß Max mehr Individuation und kaum Bezogenheit zeigt.

Falls diese Eltern ihre Beziehung zu Max so beschreiben würden: „Eigentlich haben wir nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich den Kontakt zu unserem Sohn verloren.“ stünde zunächst bei den Eltern der Wiederaufbau einer inneren Objektrepräsentanz zu Max an.

Das Familiensystem befindet sich in einem fortgeschrittenen Stadium der Ex-Kommunikation, d. h. es findet kaum noch Kommunikation zwischen Eltern und Max statt.

Die Kommunikation zieht sich auf die (inner-) psychischen Systeme zurück. Wie Max mit den inneren Repräsentationen seiner Eltern verfährt, darüber kann man nur spekulieren.

Die Eltern beschreiben ihre innere Kommunikation mit der Repräsentation von Max so, daß die letzten Konflikte im Vordergrund stehen, also sehr präsent sind, und die Repräsentationen des Vergangenen (es gab auch schöne Zeiten) überlagern. Die innere Kommunikation mit Max ist im Konflikt stecken geblieben und die Eltern finden in der sozialen Kommunikation zu Max zu keine neuen konstruktiven Möglichkeiten und Formen.

An dieser Stelle setzen wir mit Präsenz an.

Ich schlage den Eltern folgendes vor:

Setzen Sie sich, jeder Elternteil für sich alleine, zu Zeiten in denen Max garantiert nicht da ist, 2-3 mal in einer Woche für eine Viertel- bis halbe Stunde in sein Zimmer (falls abgeschlossen ist, vor seine Türe) und lassen Sie all jene Zeiten Revue passieren (sozusagen als Chronologie), die sie mit ihrem Sohn verbracht haben. Denken Sie an die guten Zeiten, da wo sie Verbindung zum Sohn gespürt hatten. Denken Sie an die Zeiten, die nicht so einfach waren, aber gut bewältigt werden konnten. Schreiben Sie bitte all das für sich selbst auf.

Mit dem anderen Elternteil sprechen Sie bitte zunächst darüber nicht, sondern bringen Sie mir zu den nächsten wöchentlichen Elterngesprächen Ihre Gedanken, Eindrücke und Aufzeichnungen mit und wir tragen das hier unseren gemeinsamen Gesprächen zusammen.

Wenn Mutter und Vater diese Erfahrung getrennt und für sich selbst machen und noch nicht miteinander darüber sprechen, sondern erstmals in unserer Anwesenheit in der Coachingsituation, dann bekommen wir als Coach eine Annäherung dessen mit, wie unterschiedlich die beiden Eltern ihre eigene Beziehung zu Max beschreiben und zum Zweiten die Erstreaktion des anderen Elternteiles mit und zum Dritten welche Kommunikation beide aus den jeweiligen Beschreibungen des anderen spontan entwickeln.

Die Gestaltung dieser Kommunikation im Elternsystem ist dann wiederum die Grundlage für eine veränderte und künftige Kommunikation mit Max, z. B. wenn die Eltern über die Narrationen eine versöhnliche Haltung zueinander und zu Max entwickeln können.

Dies ist um so eher und nachhaltiger möglich, wenn die Eltern vom Coach angeleitet werden, ihre eigene Selbstbeschreibung der Beziehung zu Max zu überprüfen und eine zielorientierte Beschreibung, u. a. mit Umdeutungen oder auch neuen Reframings, aber auch neuer Wortwahl und damit auch Bedeutungsgebung entwickeln.

Wenn die Eltern zu Max wieder einen inneren Draht (Repräsentanz) gefunden haben, schreiben sie dem Sohn einen kurzen Brief, in dem sie um ein gemeinsames Gespräch bitten.

Dieser Brief sollte mit dem Elterncoach gemeinsam entwickelt werden und sich auf den Fokus konzentrieren, daß man sich zusammen setzen möchte, aber offen lassen, um was es in dem Gespräch gehen soll; etwa nach diesem Muster:

„Lieber Max, wir möchten etwas mit Dir besprechen. Kommst Du bitte morgen Abend um 19 Uhr einmal in die Küche, damit wir uns kurz zusammensetzen und reden können. Liebe Grüße Mama und Papa.“

Wen Max zum Gespräch kommt, lies bitte Abschnitt 12.3 weiter.

Es kann aber sein, daß Max sich an einen der beiden Elternteile wendet, um in Erfahrung zu bringen, um was es denn ginge. Dann darf dieser Elternteil nichts über den geplanten Inhalt des Gespräches sagen, sondern freundlich aber bestimmt darauf verweisen, daß man sich zu Dritt hinsetzen will und dann würden sie sagen, um was es geht.

Max kann dies zum Anlaß nehmen, sich wieder einmal respektlos zu zeigen: „Was soll der Scheiß denn. Du kannst mir doch jetzt sagen, um was es geht! Jetzt sag schon!“

Der Elternteil: „Stopp Max – das sagen wir Dir morgen Abend um 19 Uhr in der Küche.“ (1)
Der Elternteil geht also nicht auf den Inhalt ein (horizontale Kommunikation), sondern verweist Max ausschließlich auf das anstehende Gespräch (vertikale K.). (2)

Der Elterncoach sollte diese Situation mit den Eltern vorbesprechen und im Rollenspiel durchspielen, damit die Eltern eine Routine entwickeln, wie sie im Tonfall, in der Wortwahl und in der Körpersprache freundlich, bestimmt (autoritär) und respektvoll bleiben können.

Zwei Folgeszenarien sind denkbar.

  1. Max kommt nicht zum Gespräch.

Die Eltern bleiben ½ Stunde (!) sitzen und warten. Sie schreiben Max erneut ein paar Zeilen, etwa:

„Lieber Max, wir hatten Dich darum gebeten, daß wir uns heute um 19 Uhr einmal zusammen setzen. Leider bist Du nicht gekommen. Der Grund für ein Gespräch mit Dir bleibt bestehen. Bitte sprich uns an, damit wir einen Termin vereinbaren können. Liebe Grüße Mama und Papa.“

Dann, wenn Max nicht zu Hause ist, legen die Eltern ihm diesen Brief auf das Kopfkissen mit einem versöhnlichen kleinen Päckchen Gummibärchen.

Nun warten die Eltern solange bis Max einen Elternteil anspricht – und wenn es 4 Wochen dauern sollte. Wenn Max irgendwann die Eltern anspricht,  wird seitens der Eltern aber wieder nur auf eine Terminvereinbarung fokussiert und nichts über den anstehenden Inhalt gesagt, weil zu dieser Besprechung beide Eltern anwesend sein müssen. Außerdem sollte so ein bedeutsames Gespräch nicht spontan erfolgen, sondern an einem Ort (Küchentisch) und einem Zeitpunkt, den die Eltern wählen und bestimmen. Max muß warten lernen und sich explizit zu einem Gespräch einfinden. Dann besteht eine größere Chance, daß er die Eltern wirklich anhört.

  1. Max kommt zum Gespräch und hört sich an, was die Eltern zu sagen haben.

Vor diesem Gespräch müssen sich die Eltern gemeinsam klar gemacht haben, mit oder ohne Coach, welches Ziel sie verfolgen:

Möchten sie auf den vermuteten Drogenkonsum fokussieren?
Möchten sie Max darauf hinweisen, daß er seinen Verpflichtungen (z. B. Schule oder Ausbildung) nachzukommen hat?
Möchten sie von Max eine Rückmeldung zu ihrem Elternverhalten?

Welche Zielrichtung die Eltern auch immer verfolgen, einige Aspekte sollten bedacht werden:

Den Eltern muß zu diesem Zeitpunkt klar sein, daß sie keinen Einfluß auf Max mehr haben. Max entscheidet ganz alleine für sich, was er tun will. Die Eltern könnten Max zu etwas nötigen nach dem Muster „wenn Du das und das nicht tust oder sein läßt, dann werden wir das oder das tun oder unternehmen“, und Max würde dann vielleicht auch dem Wunsch oder der Forderung der Eltern nachkommen, aber nur gezwungener Maßen und der Beziehung zwischen Eltern und Max würde das sicher nicht gut tun.

Die Eltern befinden sich angesichts eines Rauschmittel konsumierenden Sohnes in einem Dilemma. Sie müssen akzeptieren und hinnehmen, daß Max macht was er will, können es aber doch nicht dabei belassen, daß Max mit einem möglicherweise „Drogen verseuchten Gehirn“ Dinge tut, die er mit klarem Verstand so nicht machen würde.

Da es aber nun einmal die Realität ist, daß man auf keinen Menschen einen wirklichen Einfluß hat, bleibt den Eltern nur die Option, sich nachhaltig für Konsumfreiheit einzusetzen. Die Grundlage ist, daß sie ihren Sohn lieben und deswegen nicht aufgeben können, sich für Konsumfreiheit und ein gesundes Leben einzusetzen.

Daher darf diese existentielle Forderung auf keinen Fall mit anderen Aspekten (Schule, Ausbildung, schmutzige Schuhe im Haus, Aufräumen etc.) verknüpft werden, weil sonst ihre Bedeutung dahinter verschwindet.

Der eher seltene Fall, der aber vorkommen kann

Max zeigt auch nach 4 Wochen des ersten Briefchens keine Reaktion. Dann werden die Eltern ein zweites Mal eine schriftliche Einladung auf das Kofkissen legen für einen Gesprächstermin in ca. 3 Tagen zu einer Zeit in der Max auch zu Hause sein kann. Dieses Mal ohne versöhnliche (Kooperations-) Geste á la Tit for Tat.

Kommt Max abermals nicht und zeigt auch keine Reaktion, muß der Coach aufgrund seiner Erfahrung mit den Eltern überlegen, ob eher eine Defektion (a) oder ein Kooperationsangebot (b) oder eine Verwirrung (c) zielführend sein könnte. Beispiele

(a) Defektion (3) Die Eltern könnten May auf den „Impuls“ seiner Verweigerung gehen und täglich um einen Gesprächstermin bitten.

(b) Die Eltern könnten Max in sein Lieblingsrestaurant zum Essen einladen, um das dort mitzuteilen.

(c) Verwirrung: Die Eltern räumen den Kühlschrank leer und besorgen nur für sich selbst täglich das Nötigste zum Essen. Würde dann Max ankommen, um zu monieren, daß nicht zum Essen da sei, müßte der Elternteil sagen, „Max. Heute Abend 19 Uhr ein kurzes Gespräch.“ Kein Wort, kein weiterer Satz. Auf keinen Fall argumentieren, diskutieren, sich in ein Gespräch reinziehen lassen, dann wäre die Wirkung hin. Sondern einfach rumdrehen und gehen. Die Kühlschrankstrategie weitermachen, falls Max immer nicht bereit ist, zu kommen.


(1) Entsprechend dem Vorgehen der Verhandlungs- und Deeskalationsstrategie Tit for Tat:

(2) zum Thema horizontale und vertikale Kommunikation ein unterhaltsames Fachbuch von Peter Modler. Mit Ignoraten sprechen. Wer nur argumentiert verliert. Frankfurt a.M. 2019

(3) ein Defektor reagiert unfreundlich, unkooperativ.