9.5 „Professionalisierung“ von Eltern
Fortwährender gesellschaftlicher Wandel und Kontextvielfalt in vielen Lebensbereichen machen es Familien nicht leicht, noch eine Sicherheit spendende Orientierung zu behalten. Jede weitere Abweichung von einer vermeintlichen Normalität kann Familien und damit auch Eltern an die Grenze dessen bringen, an der Orientierung noch möglich ist. Der Gebrauch von Rauschmitteln und Medien kann eine Abweichung sein.
Für Jugendliche, die sich in einer pubertären Experimentierphase befinden, ist „Normalität“ etwas, daß in Frage gestellt werden muß.
Eltern, die selbst keine Pubertät mit experimentellem Rauschmittelkonsum oder eine Phase mit exzessivem Mediengebrauch durchlaufen haben, kann dieses Experimentieren Angst machen. Sie werden verunsichert sein, ob das noch „normal“ oder schon abweichend oder gefährlich sein kann. Eltern mit entsprechender eigener Erfahrung sich leichter tun, und sie bleiben meist gelassener und tragen weniger dazu bei, den Pubertierenden zusätzlich zu verunsichern.
Fazit: Weil es immer noch keinen breiten gesamtgesellschaftlichen Konsenz gibt, was für die Erziehung, also die Eltern-Kinder-Beziehung, als bedeutsam angesehen wird, wie sollen sich Eltern dann in besonderen Situationen (Rauschmittelkonsum) und neuen Entwicklungen (Medienmißbrauch) orientieren können, wo doch selbst die professionelle Welt allzu häufig immer noch orientierungslos erscheint. Oft erhalten wir in der Suchthilfe die Anfrage von professionellen Helfern, sie wüßten nicht weiter, es gehe doch um Süchtiges.
Professionelles Wissen und KnowHow für alle, aber bitte mit Haltung
Es ist schon erstaunlich, daß auf dem schulischen Lehrplan noch nicht einmal die Basics dessen stehen, was wir für zwischenmenschliches Umgehen und Zusammenleben wissen sollten. Wir können das beklagen. Es hilft uns aber nicht weiter. Also müssen wir das im Elterncoaching nachholen und nacharbeiten. Es gibt je nach Fall und Anforderung für die Eltern viel zu lernen und neu umzusetzen.
Wir sollten im Elterncoaching für Transparenz sorgen. Keine kommunikative Zauberei. Alles wird verstehbar gemacht. Es kommt nicht nur auf Wissen und KnowHow an, sondern auch auf die Haltung: wir gehen respektvoll mit den Eltern um und möchten, daß sie respektvoll mit ihren Jugendlichen umgehen. Wir machen transparent, was wir wie mit den Eltern vorhaben, was wir ihnen präsentieren und zumuten. Das gleiche sollten auch Eltern gegenüber ihren Jugendlichen praktizieren und umsetzen. Die Kernbotschaft des Elterncoachings und des neuen elternlichen Engagements ist:
- Max, Du konsumierst. Das möchten wir nicht.
- Wir sind hilflos und wissen, daß wir Dich letztlich nicht hindern können.
- Weil Du unser Sohn bist und wir Dich lieben, müssen wir uns aber dafür einsetzen, daß Du den Konsum aufgibst.
- Das machen wir bis Du konsumfrei lebst.
Auf diese zentrale Botschaft läuft das Elterncoaching hinaus. Zuvor gibt es viele mögliche Zwischenschritte, die je nach Fall, Konsumstatus und gesundheitlicher Gefährdung des Jugendlichen und Zustand der Eltern, entwickelt und beschritten werden können.
In diesen vorbereitenden und zielorientierten Schritten, in denen die Eltern viel über Kommunikation, die Gestaltung von Beziehungen, familiärer Muster etc. lernen, entsteht immer einmal wieder die Frage, ob dieses KnowHow, mit anderen Menschen umzugehen, nicht manipulativ sei. Meine Antwort ist: Das ist manipulativ. Jeder von uns fühlt sich in der Gegenwart anderer Menschen dann am Wohlsten, wenn sich andere so verhalten, wie es den eigenen bekannten und vertrauten Beziehungsmustern entspricht. Und wir tun unbewußt verdammt viel, daß die anderen sich so verhalten sollen. Man nennt dies „Übertragung“. Mir ist es aber lieber, möglichst viele Menschen haben das Wissen über alle diese Mechanismen, wie Menschen miteinander umgehen. Das ist mein Job – dafür setze ich mich ein. Und wenn ich schon unbewußt sowieso ständig andere Menschen „manipuliere“, dann ist es mir doch lieber, ich mache dies auch bewußt und ich weiß wofür und wozu. Natürlich läßt sich dieses Wissen um Kommunikation und Interaktion auch mißbrauchen, weshalb ich dies immer mit einer bestimmten Haltung verbinde und diese auch einfordere: die partnerschaftliche und kooperative Interaktion auf Augenhöhe.
Viele der Klienten haben rückgemeldet, daß ihnen dieses Wissen, das KnowHow und die begleitende Haltung nicht nur in Bezug auf den Jugendlichen geholfen habe, sondern auch zu wohltuenden Veränderungen in der Partnerschaft und im Beruf geführt habe.
Das Eltern zu vermittelnde Wissen und KnowHow folgt im Elterncoaching keinem geschlossenen Curriculum, sondern wird je nach Fall aktiviert und eingesetzt, um funktional bestimmte Ziele zu verfolgen. In den folgenden Kapiteln werden „Werkzeuge“ vermittelt, die in ihrer Gesamtheit einen Werkzeugkoffer bilden, der je nach Einsatz geöffnet werden kann. Analog der folgenden Metapher: Du hast zu Hause eine Türe, die nicht mehr schließt. Du weißt nicht warum und wieso und bestellst einen Handwerker. Der kommt und untersucht die Türe. Er holt seinen Werkzeugkasten, öffnet ihn und repariert dann die Türe und erklärt Dir begleitend was er tut, so daß Du es das nächste Mal selber machen könntest. Zusätzlich erläutert er auch noch einige andere Handwerkszeuge, warum er die nicht benutzt, weil die Schäden anrichten könnten. Auch wäre die Reparatur nur sinnvoll, wenn er die Türe nun in diesen einen bestimmten Türrahmen (Zarge) einsetze, denn in einem anderen Türrahmen müsse zuvor etwas anderes geschehen. Menschen sind keine Gegenstände und Maschinen, die Metapher hinkt, aber jeder weiß, was gemeint ist.
Im Elterncoaching gibt es keine Rezepte. Jedes Vorgehen ist individuell abzustimmen und zu entscheiden. Aber das Ziel ist klar: Konsumfreiheit. Der Coach verfügt über den umfangreichsten Werkzeugkoffer und gibt davon etwas an die Eltern weiter.