7.1.1.3 Mittel

In der Psychoedukation messe ich dem Aspekt der Mittel besondere Aufmerksamkeit und Bedeutung zu, weil die Erfahrung gezeigt hat, daß die folgende Version die elterliche „Schuld“ z. B. am Drogenkonsum deutlich relativieren kann:

Siehe Kapitel 7.1 Wie eine Abhängigkeit entstehen kann I

Es ist ein Zufall, ob man aufgrund aufnahmebereiter Rezeptoren in einem zufälligen Zeitfenster einen Cannabisrausch erleben kann und dann auf eine Konsumschiene gerät.

Wissenswert ist dazu noch folgender Mechanismus: Ist der Effekt oder das Ergebnis wesentlich besser als die vorausgehende Erwartung gibt es im Belohnungssystem einen sogenannten Dopamin-Kick und der ist noch einmal intensiver als der originäre Rauschzustand. Der Dopamin-Kick ist fortan an der Motivation für die Wiederholung beteiligt und beruht auf der sogeannten „positiven Überraschung“.

Eine Metapher: Dein Freund hat Dir von einem neuen Restaurant mit phantastischem Essen und sehr netter Atmosphäre berichtet. Das Essen, so schwärmt er, sei einfach genial. Du bist neugrierig geworden und gehst mit Deiner Frau essen. Ihr bestellt. Das Essen kommt und ihr probiert. Drei Möglichkeiten:

  1. Wenn das Essen besser ist als die Erwartung, wirst Du bestimmt noch einmal dort essen gehen und Deinen Freunden davon erzählen.
  2. Ist das Essen ungefähr so, wie Dein Freund erzählt hat, wirst Du vielleicht noch einmal dort essen gehen, Deinen Freunden aber vermutlich nichts berichten.
  3. Ist das Essen nicht so, wie Dein Freund erzählt und Du erwartet hast, wirst Du kaum noch einmal dort essen gehen.

Eine der Theorien, die sich mit der positiven Überraschung beschäftigt, ist die „Broaden-and-Build-Theorie“ (1)  Diese Theorie besagt, dass positive Emotionen wie Freude, Dankbarkeit und Zufriedenheit die kognitive und emotionale Flexibilität erhöhen, was zu einem breiteren und flexibleren Denken führt. Dadurch sind Menschen besser in der Lage, unerwartete Ereignisse und Herausforderungen zu bewältigen.

In ihren Buch „Die Macht der guten Gefühle. Wie eine positive Haltung Ihr Leben dauerhaft verändert“ erklärt Barabra Fredrickson, wie positive Emotionen wie Freude, Dankbarkeit und Zufriedenheit dazu beitragen können, unser Denken zu erweitern und unsere Fähigkeit zur Bewältigung von Stress und Herausforderungen zu verbessern. Sie beschreibt auch, wie diese positiven Emotionen zu einem breiteren Repertoire an Handlungen und Ressourcen führen können, die uns helfen, unser Wohlbefinden und unsere Gesundheit zu verbessern.

In einer Studie von Emily Pronin und Daniel Wegner wurden Probanden gebeten, eine Aufgabe zu erledigen, bei der sie ein positives oder negatives Ergebnis erwarten konnten. Die Ergebnisse zeigten, dass Menschen, die ein positives Ergebnis erwarteten und tatsächlich ein noch besseres Ergebnis erzielten, glücklicher und zufriedener waren als diejenigen, die ein positives Ergebnis erwarteten und ein erwartetes Ergebnis erzielten.

Eine weitere Studie von Simone Schnall und Michael W. Wiederman ergab, dass Menschen, die eine positive Überraschung erleben, ein höheres Selbstwertgefühl und ein größeres Gefühl der Kontrolle über ihr Leben haben. Sie waren auch besser in der Lage, Stress und negative Emotionen zu bewältigen.

Es gibt tatsächlich einen Zusammenhang zwischen dem Erleben einer positiven Überraschung und der Entwicklung von Abhängigkeit von Suchtmitteln. Die „positive Überraschung“ kann dazu führen, dass das Gehirn eine höhere Freisetzung von Dopamin erlebt, einem Neurotransmitter, der mit positiven Emotionen und Belohnung assoziiert ist.

Wenn eine Person regelmäßig eine positive Überraschung erlebt, kann dies dazu führen, dass sie sich auf diese Erfahrung verlässt und sie immer wieder sucht. Wenn diese Erfahrung durch den Konsum von Suchtmitteln wie Alkohol oder Drogen verstärkt wird, kann dies zu einer Abhängigkeit führen.

Ein weiterer Faktor, der zur Entwicklung von Sucht beitragen kann, ist die Tatsache, dass Menschen oft dazu neigen, eine positive Überraschung als Anreiz zu betrachten, weiterhin bestimmte Verhaltensweisen auszuüben. Dies kann dazu führen, dass Menschen in den Konsum von Suchtmitteln hineingezogen werden, um das Gefühl der positiven Überraschung aufrechtzuerhalten.

Es ist wichtig zu beachten, dass nicht jeder, der eine positive Überraschung erlebt, zwangsläufig eine Sucht entwickeln wird. Der Zusammenhang zwischen positiver Überraschung und Sucht einerseits und einer passenden Biochemie zwischen Organismus und Rauschmittel andererseits sind jedoch zwei wichtige Faktoren, die bei der Prävention und Behandlung von Abhängigkeit berücksichtigt werden sollte.

Es gibt mehrere Untersuchungen, die zeigen, dass die Erwartungen an die Wirkung von Rauschmitteln oft größer sind als die tatsächliche Wirkung nach dem Konsum. Einige Beispiele sind:

  • Eine Studie aus dem Jahr 2011, die im Journal of Psychopharmacology veröffentlicht wurde, untersuchte den Placeboeffekt von Alkohol. Die Forscher gaben den Teilnehmern entweder ein alkoholfreies Getränk, das sie als alkoholhaltiges Getränk bezeichneten, oder ein alkoholhaltiges Getränk, das sie als alkoholfreies Getränk bezeichneten. Die Ergebnisse zeigten, dass die Teilnehmer, die das vermeintlich alkoholhaltige Getränk erhielten, signifikant höhere Erwartungen an die Wirkung hatten und tatsächlich eine größere Veränderung in ihrem Verhalten und ihrer kognitiven Leistung zeigten als diejenigen, die das vermeintlich alkoholfreie Getränk erhielten.
  • Eine andere Studie aus dem Jahr 2016, die ebenfalls im Journal of Psychopharmacology veröffentlicht wurde, untersuchte die Wirkung von Cannabis auf die Stimmung von regelmäßigen Konsumenten. Die Teilnehmer erhielten entweder ein Placebo oder eine Dosis von Cannabis, die sie als hoch oder niedrig bezeichneten. Die Ergebnisse zeigten, dass die Teilnehmer, die die vermeintlich höhere Dosis von Cannabis erhielten, höhere Erwartungen an die Wirkung hatten und tatsächlich eine größere Veränderung in ihrer Stimmung zeigten als diejenigen, die die vermeintlich niedrigere Dosis erhielten.
  • Eine Meta-Analyse aus dem Jahr 2017, die im Journal of Studies on Alcohol and Drugs veröffentlicht wurde, untersuchte den Placeboeffekt von Alkohol in mehreren Studien. Die Ergebnisse zeigten, dass die Erwartungen an die Wirkung von Alkohol signifikant höher waren als die tatsächliche Wirkung, insbesondere bei Personen, die weniger Erfahrung mit Alkoholkonsum hatten.

Diese Studien und andere ähnliche Untersuchungen legen nahe, dass die Erwartungen an die Wirkung von Rauschmitteln oft größer sind als die tatsächliche Wirkung nach dem Konsum. Dies kann dazu führen, dass Menschen mehr Rauschmittel konsumieren, um das gewünschte Gefühl zu erreichen, was wiederum zu einem höheren Risiko für Abhängigkeit und anderen gesundheitlichen Problemen führen kann.

Dann muß man sich jedoch weitergedacht fragen, warum jemand auch dann noch konsumiert, wenn bereits spürbar leidvolle Nebenwirkungen des mißbräuchlichen Konsums eingetreten sind. Wenn nun die Erwartung vor einem Konsum um eine Vielfaches bedeutsamer ist, als im Augenblick des Konsums erlebt wird, steuert man auf eine Paradoxie zu, weil das phänomenale Erwarten des Konsumeffektes nur möglich ist, wenn man dann auch konsumiert.

„Vorfreude ist die schönste Freude“ ist ein Sprichwort, das besagt, dass die Freude an einer bevorstehenden Erfahrung oft größer ist als die Freude selbst. Es ist interessant zu untersuchen, was die Hirnforschung dazu sagt.

Studien haben gezeigt, dass die Aktivität im Belohnungssystem des Gehirns, einschließlich des Nucleus accumbens und des ventralen tegmentalen Bereichs, während der Vorfreude auf eine belohnende Erfahrung erhöht ist. Dies bedeutet, dass das Gehirn bereits positive Emotionen erlebt, bevor die tatsächliche Erfahrung stattfindet.

Darüber hinaus haben Studien auch gezeigt, dass die Vorfreude auf eine Erfahrung das Gedächtnis und die Wahrnehmung der Erfahrung beeinflussen kann. Menschen, die mehr Vorfreude auf eine Erfahrung haben, erinnern sich oft positiver an die Erfahrung und erleben sie intensiver.

Insgesamt legen diese Ergebnisse nahe, dass „Vorfreude ist die schönste Freude“ auf einer wissenschaftlichen Ebene eine gewisse Wahrheit hat. Die Vorfreude auf eine Erfahrung kann tatsächlich ein wichtiger Teil der Freude sein, die wir aus einer Erfahrung ziehen.

Ich halte dieses Phänomen der Vorfreude inzwischen als einen bedeutsamen Mechanismus, daß Menschen trotz leidvoller Nebenwirkungen, weiter konsumieren.

Psychoeduaktion

Die o. g. Phänomene können wir als „Produktinformation“ Eltern vermitteln.

Insgeamt ist es hilfreich, Eltern zu vermitteln, daß es reiner Zufall ist, ob ein Jugendlicher einen Probierkonsum subjetiv als phänomenal erlebt und unbedingt mehr davon möchte oder ob er dem nichts abgewinnen kann. Es ist eine Frage des Zusammentreffens einer bestimmten körpereigenen Biochemie und der Biochemie eines Konsumstoffes. Zum falschen Zeitpunkt konsumiert ein Jugendlicher einen Stoff der zu seiner körpereigenen Botenstofforganisation passt.

Dieses gilt für alle psychoaktiven Stoffe incl. Nikotinkonsum. Wer nicht die passende Botenstofforganisation bei dem Konsum eines x-beliebigen Stoffes mitbringt, wird diesen subjektiv weder als passend noch als gut, schön, toll, phänomenal erleben.

Umgekehrt bedeutet dies, wer auf Rotwein steht, benötigt eine passende Botenstofforganisation ebenso wie ein Altbier-Fan.

Merke: Die Botschaft, die wir an die Eltern richten: Es sind die so weit verbreiteten Drogen an dem Konsum Ihres Kindes Schuld. Gäbe es diese Menge an Drogen nicht, gäbe es keinen oder weniger Probierkonsummöglichkeiten und Ihr Jugendlicher hätte zum passenden Zeitpunkt gar nicht den passenden Stoff konsumieren und erleben können.


(1) Fredrickson, B. L. (2008). Die Macht der guten Gefühle. Wie eine positive Haltung Ihr Leben dauerhaft verändert. Verlag C.H. Beck.