7.1 Wie eine Sucht entstehen kann I (der Zufall)

In der Suchthilfe haben wir es bei Jugendlichen mit zwei Konsumentengruppen zu tun:

Die erste Gruppe hatte bis zum Konsumbeginn eine völlig „normale“ Entwicklungsgeschichte. Sie bringt eine gute Resilienz mit. (1)
Die zweite Gruppe hat eine leidvolle Vorgeschichte (Asperger, ADHS, ADS, Trennung der Eltern, Multiproblemfamiliensituation, Bindungstrauma etc.) und bringt eine gewisse Vulnerabilität mit. (2)

Wenden wir uns zunächst der ersten Gruppe zu. Eltern kommen in Beratung und berichten über ihren Max, daß dieser in seinen bisherigen  Lebensjahren eine durchschnittliche und normale Entwicklung durchlaufen habe und die Eltern in ihrem Erziehungsverhalten nicht besonders gefordert waren. Es gab gute und es gab nicht so gute Zeiten in der Familie und im Leben ihres Jugendlichen – alles war halt so wie der Durchschnitt.

Umso erstaunter zeigen sich Eltern, daß ihr 15jähriger Max Rauschmittel konsumiert. Alkohol ginge ja noch, aber Cannabis?! Erst gelegentlicher Konsum, dann jedes Wochenende und jetzt möglicherweise schon täglich. Wie ist das möglich?

Die Erklärung kann einfach sein: Max hat zu einem falschen Zeitpunkt von seiner Clique einen Joint zum Probieren bekommen und dieser Probierkonsum hatte eine fabelhaft gute Wirkung, so gut, daß Max mehr wollte: Was uns gut tut, davon wollen wir mehr!

Was ist nun aber bei Max passiert? Bleiben wir einmal beim Cannabis-Probierkonsum: Jeder von uns verfügt über körpereigenes Cannabis. Wir haben im Körper ein soganntes Endocannabinoidsystem (4), verfügen also über körpereigene Cannabisstoffe und über Rezeptoren, u. a. im Gehirn, an denen diese Cannabisstoffe andocken und ihre (u. a. psychoaktive) Wirksamkeit entfalten können. Das können sie aber nur dann, wenn es zum Konsumzeitpunkt gerade freie Rezeptoren (5) gibt, an die das von außen zugeführte Cannabis andocken kann, weil es nur dann seine Wirkung entfalten kann.

Dazu muß man aber wissen, daß es in der Kindheit vor Beginn der Pubertät beim körpereigenen Cannabis nur kleine Tageschwankungen gibt. Ebenso ist das im Erwachenenalter, bei Cannabis ab ca. 30 Jahren. In dieser Entwicklungsphase kann es Zeitfenster geben, in denen sich die Zahl der Cannabinoid-Rezeptoren vermehrt oder verringert– eine relativ neue Erkenntnis. (6) Dann steht kaum freies körpereigenes Cannabis zur Verfügung und es stehen nun unbesetzte freie Rezeptoren zur Verfügung (rote Kreis in Abb. X) an die konsumiertes Cannabis andocken und seine psychoaktive Wirkung entfalten kann, sagen wir: der Joint knallt so richtig rein! Super Wirkung! Die wir aber dann nicht haben, wenn „normal“ viele Rezeptoren existieren und diese komplett durch körpereigenes Cannabis besetzt sind. Dann wird man beim Konsum eines Joints entweder gar keine Wirkung haben oder eine, die einem nicht besonders viel gibt oder in der Wirkung sogar unangenehm sein könnte.

 

Die Botschaft lautet also: Es war bei Max purer Zufall, daß er den ersten Probierkonsum eines Joint so phänomenal toll fand und deshalb mehr haben wollte. Er hatte gerade ein Zeitfenster seines pubertären Gehirnumbaues erwischt, als es ein Überangebot an Cannabis-Rezeptoren gab. Ein paar Tage später konsumiert und per Zufall wären diese Rezeptoren wieder verschwunden gewesen und er hätte diese  Wirkung nicht verspürt.


1 „Resilienz ist die Fähigkeit eines Systems, mit Veränderungen umgehen zu können.“ siehe http://de.wikipedia.org/wiki/Resilienz
Vulnerabilität als das Gegenteil von Resilienz, siehe http://de.wikipedia.org/wiki/Vulnerabilität
3 Wie das Gehirn unter Einfluß der verschiedenen Rauschmittel arbeitet zeigt eine Animation, die in vielen Sprachen zur Verfügung steht: http://ginko-stiftung.de/drugsandbrain/default.aspx?M=1
4 siehe http://de.wikipedia.org/wiki/Endocannabinoid-System
siehe http://de.wikipedia.org/wiki/Cannabinoid-Rezeptor_1
6 mitgeteilt von Dr. Hans Dlabal. „Adoleszenz und Suchtmittelkonsum? – Aktueller Forschungsstand zu möglichen akuten Folgen und
längerfristigen Auswirkungen“. Seminar 1530 Hamburger Suchttherapietage 22. Mai 2013