Eine Biografie erarbeiten

In verschiedenen Arbeitsfeldern der Sozialarbeit treffen wir auf Klienten mit fragmentierten Biografien. Sie haben in Lebensabschnitten mehrfach traumatische Phasen durchlaufen, wie z. B.

  • Kinder mit wenig feinfühligen Eltern, bei denen brüchige Entwicklungsphasen und Überforderungen entstanden
  • Gewalterfahrungen in der familiären Entwicklungsgeschichte
  • Menschen, die in unterschiedlichen Alters- und Lebensabschnitten Krieg und Flucht erlebten
  • Gewalterfahrungen in Partnerschaften

Traumatische Erlebnisse und Erfahrungen werden in den vorausgehenden und nachfolgenden Zeitfenstern oftmals mit Amnesien belegt, ebenso wenn später Trigger (Schlüsselreize) zum Wiedererleben traumatischer Situationen (Flashbacks und Intrusionen) führen.

Traumatisierung kann zu fragmentierten Biografien führen, da Menschen aufgrund der Erfahrung von Traumata Schwierigkeiten haben können, ihre Lebensgeschichte als zusammenhängende Erzählung zu erleben oder zu erzählen.

Menschen, die traumatisiert wurden, können Schwierigkeiten haben, ihre Erinnerungen in eine sinnvolle Chronologie zu bringen oder eine kohärente Geschichte ihres Lebens zu erzählen. Sie können auch Schwierigkeiten haben, Ereignisse in der Vergangenheit von der Gegenwart zu unterscheiden, was zu einem Gefühl der Dissoziation führen kann. Dissoziation ist ein Zustand, in dem eine Person sich von der Realität distanziert oder sich von sich selbst entfremdet fühlt.

Über die Trauma Erfahrungen hinaus bewirken Amnesien und Dissoziationen im Gehirn eine sogenannte Inkonsistenz. Das ist ein Zustand, in dem es eine Diskrepanz oder einen Widerspruch zwischen verschiedenen Teilen des Gehirns oder zwischen den neuronalen Schaltkreisen gibt. Diese Diskrepanz kann dazu führen, dass das Gehirn widersprüchliche Informationen verarbeitet, was zu Verwirrung und Desorientierung führen kann. Inkonsistente Zustände bedeuten für das Gehirn, den menschlichen Organismus weiteren Streß. Die Zusammenhänge sind den betroffenen Menschen nicht bewußt.

Nicht immer ist eine Traumatherapie möglich. Dann könnte wenigstens an einer fragmentierten Biografie gearbeitet werden, so daß nach und nach eine konsistente Biografie beschrieben werden kann.

Die folgende Methode ist eine Light Version der Narrativen Expositionstherapie (NET) [2]. Die Light Version erhebt keinen therapeutischen Anspruch. Vielmehr soll sie insbesondere Mitarbeitenden und Klienten in sozialpsychiatrischen Arbeitsfeldern eine Anleitung zur Verfügung stellen, eine weitgehend geschlossene Biografie zu erarbeiten.

Den Mitarbeitenden kann sich mit dieser Arbeit ein vertiefter diagnostischer Eindruck über den Klienten erschließen. Damit können neue Ideen über Hilfeangebote, Beziehungsmuster etc. entstehen.

Die Klienten haben nach getaner Arbeit mindestens einen fast vollständigen Lebenslauf in der Hand. Dies kann dazu beitragen, etwas mehr zu wissen: Woher komme ich und wer bin ich eigentlich und wo will ich eventuell noch hin?!

Die Anleitung

Die Personen

  • Klient/Klientin, abgekürzt KL
  • Mitarbeiter/Mitarbeiterin, abgekürzt MA

Das Material:

  • FlipChart Blätter und ein Stapel DIN-A4-Blätter
  • Mehrfarbige Filzstifte
  • Handschriftliches in ein Textverarbeitungsprogramm übertragen und ausdrucken

Das Setting

Es werden je nach Lebensalter des KL eine unbestimmte Anzahl von Gesprächen benötigt. Das läßt sich beim jeweiligen KL nur abschätzen, wenn der MA schon viel Erfahrung mit diesem Verfahren hat.

Die Erfahrung zeigt, jede Gesprächssitzung sollte max. 30 Minuten dauern. Auf keinen Fall länger pro Termin arbeiten. Das führt in der Regel bei den KL zu Überforderungen, was erst später erkennbar werden wird.

Das Ziel

Es soll ein tabellarischer Lebenslauf, eine Biografie, entwickelt werden aufgrund der Datenlage, die der KL weiß und evtl. bei Verwandten oder Sichtung von Akten und Dokumenten noch ergänzend in Erfahrung bringen kann. Es muß im Einzelfall überlegt werden, ob es sozialverträglich sein wird, Kontaktpersonen einzubeziehen.

KL und MA haben nach getaner Arbeit beide eine schriftliche Version in der Hand.

 Das Vorgehen

KL und MA entscheiden, wer die Schriftführung übernimmt. Ich rate dazu, dies zunächst dem MA zu überlassen. Mit zunehmender Sicherheit in der Durchführung könnte das später der KL übernehmen.

Auf einem senkrechten Zeitstrahl beginnt man mit der Familiengründung, d. h. wann haben die Eltern ihre Beziehung begonnen.

Bei komplexen zusammengesetzten Familiensystemen (Patchwork-Familien) sollte man erst viel später einen Blick werfen, z. B. aus welchen Beziehungen ältere Stiefgeschwister stammen. Der Start des Lebenslaufes sollte zunächst bewußt einfach gestaltet werden (Reduzierung von Komplexität).

Auf der Linie des Zeitstrahls werden das jeweilige Datum oder Jahr oder Monat notiert.

Auf der rechten Seite des Zeitstrahls werden in Stichworten Erinnerungen unverfänglicher und positiver Art notiert. Auch die beteiligten Emotionen und Erlebnisse können ausführlich besprochen und notiert werden

Auf der linken Seite des Zeitstrahls werden in Stichworten Erinnerungen leidvoller und stressiger Art notiert.

Die Erzählungen (Narrationen) des KL

Der KL erzählt mit Blick auf das Papier von sich selbst in der dritten Person.

Bespiel Anna:   Als Anna 3 Jahre alt war, ist ihre Familie nach Dortmund umgezogen, das war für Anna ziemlich …

Diese Form der Erzählung soll dem KL ermöglichen, das eigene Erleben zu externalisieren [3] und auf ein Alter Ego zu projizieren, um damit gleichsam zu verhindern, sich allzu emotional in die Vergangenheit hineinzubegeben.

Der MA zu Anna:   Wie mag es der 5-jährigen Anna gegangen sein, als ihre Mutter ihr sagte, daß bald ein Geschwisterkind geboren würde?

Dies ist keine therapeutische Methode, sondern dient einzig der Erarbeitung von etwas mehr lebensgeschichtlicher Konsistenz. Daher können einerseits auf der rechten Seite des Zeitstrahls assoziativ positiv besetzte Zeitpunkte besprochen werden.

Sobald jedoch Leidvolles zur Sprache kommt, muß der MA dafür sorgen, daß sofort innegehalten und vertagt wird. Daß leidvolle Erzählungen vom MA umgehend gestoppt werden, muß transparent in einem Vorgespräch vereinbart werden, damit sich der KL nicht brüskiert fühlt oder dem MA mangelnde Empathie unterstellt. Für die leidvollen Zeitpunkte oder Abschnitte werden links neben den Zeitstrahl Symbole und Schlüsselbegriffe, Überschriften, notiert. Erst am Ende der Arbeit nach Vervollständigung der Biografie wird geklärt, was mit den leidvollen Erzählungen geschehen soll. Läßt man sie ruhen? Soll man einen Therapeuten hinzuziehen?

Der MA zu Anna:   Anna – Moment, warten Sie. Ich merke gerade, wie sich belastende Gefühle bemerkbar machen. (Pause, damit Anna durchatmen kann) Wie wir Anfangs besprochen haben, reden wir jetzt nicht weiter über die beteiligten Gefühle, die Anna damals erlebt haben mag (Annas aktuelle affektive Reaktion wird externalisiert und der früheren Anna zugeordnet). Lassen Sie uns für den Zeitpunkt einen Begriff und ein Symbol suchen, damit wir das später wieder aufgreifen und uns erinnern können.

Die Dokumentationsform

Nach einer Sitzung nimmt der MA die handschriftlichen Notizen mit und bringt sie mit einer Textverarbeitung in eine vorläufige Reinform. Zum nächsten Gespräch erhält der KL diesen Ausdruck. Von Sitzung zu Sitzung wird der MA für sich und den KL das gesamte Dokument immer wieder aktualisieren, ausdrucken und dem KL überreichen.

Nach getaner Arbeit wird der KL über einen tabellarischen Lebenslauf in der Form eines Zeitstrahls verfügen. Die Erfahrung zeigt, obwohl vieles assoziativ wieder erinnert wurde, besprochen und dokumentiert werden konnte, kann es wieder mit Amnesie belegt werden – ein psychischer Schutzvorgang. Vielen dieser KL reicht es, zu wissen, daß sie in einer Schublade oder einem Aktenordner ein paar ausgedruckte Seiten ihrer Vita haben, ohne sich über Einzelheiten zielsicher erinnern zu können. Allein das Bewusstsein, jederzeit nachlesen zu können, was dann und dann gewesen ist, übt eine die Identität unterstützende, beruhigende, fast heilsame Funktion aus.


[1] zum Thema Trauma siehe Einheit 15 bis 19 bei
https://systemische-fortbildung.de/der-1-blog

[2] zu NET
https://www.hogrefe.com/de/shop/narrative-expositionstherapie-net-93790.html
https://de.wikipedia.org/wiki/Narrative_Expositionstherapie
Fortbildung in NET: https://afww.uni-konstanz.de/de/narrative-expositionstherapie

[3]Externalisierung
https://de.wikipedia.org/wiki/Michael_White_(Psychotherapeut)