Unwillkürliches muß manchmal nicht aufgebaut, sondern gehemmt werden (Inhibition).

Die Tränenfrau

Eine Frau, Mitte 40, medizinischer Beruf, hatte sich vor einem Jahr von ihrem kokainabhängigen Ehemann getrennt. Sie sei ihm vor 14 Tagen begegnet – er in einem desolaten besorgniserregenden Zustand. Nun mache sie sich Vorwürfe, daß sie sich getrennt habe, wenngleich sie sicher sei, daß sie das Zusammenleben nicht mehr ausgehalten habe. Sie berichtete im Erstgespräch über die gemeinsame Geschichte. Bemerkenswert war, daß unaufhörlich die Tränen liefen. Sie berichtete affektiv durchaus angemessen, so daß ich ihr Weinen und ihre Verzweiflung, genährt aus der angedeuteten Ambivalenz, nachvollziehen konnte. Sie mußte ihre Erzählung immer wieder unterbrechen, um sich zu schneuzen und die Tränen zu wischen und ein neues Taschentuch zu suchen – ich schob ihr mitfühlend die Kleenexbox hin, die auf dem Gesprächstisch bereitsteht.

Im zweiten Gespräch setzte sie ihre Erzählung einerseits angemessen im Inhalt wie in den begleitenden Affekten fort, wurde aber mehrfach von den Tränenflüssen unterbrochen bzw. abgelenkt. Der Gesprächsfaden zwischen uns geriet darüber immer wieder ins Stocken. Ich gewann den Eindruck, daß wir beide einerseits guten beiderseitigen Rapport herstellen konnten, die Aufrechterhaltung jedoch durch die Tränen immer wieder unterbrochen wurde. Wir kamen vor lauter Weinen und Tränen kaum zum Reflektieren und Ansprechen anderer Aspekte. Ich machte diesen Eindruck transparent und sprach das an. Sie bestätigte, das ginge ihr auch so. Das Weinen würde sie langsam nerven. Auch in anderen Situationen, bei Fernsehfilmen, bei Gesprächen mit Freundinnen abseits ihres eigenen Leids, flössen die Tränen nicht nur wie von selbst, sondern seien auch kaum zu stoppen. Neulich habe sie im Supermarkt erlebt, wie eine Mutter ihre kleine Tochter richtig runtergeputzt habe, da seien ihr in Identifikation mit dem Kind die Tränen geflossen, was ihr peinlich gewesen sei. Vor lauter Weinen komme sie kaum noch zu etwas. Wenn Patienten zur Behandlung da seien, müsse sie sich inzwischen „total“ zusammenreißen, um das Weinen zu verhindern. Dabei fühle sie sich in diesen Situation gar nicht so, daß es zum Weinen sei. Das käme einfach so.

Ich sagte ihr, ich würde in mich gehen (1), wie wir das augenblicklich (2) stoppen (3) könnten – wenn sie einverstanden (4) sei, daß wir neben ihrem Thema das Augenmerk (5) auch darauf legten (6).

Auch sie zeigte sich spontan erleichtert, als fiele eine Last von ihren Schultern. Wir vereinbarten 5 weitere Gespräche mit den Zielen, die Tränen im Auge zu behalten (7) und uns um ihre leidvolle Ambivalenz zu kümmern. (Würdigung ihres Kummers). Sie stimmte zu. Ich schlug ihr vor: Immer sobald Sie oder ich merken, die Tränen könnten fließen, stoppen wir das Gespräch, indem ich das Fenster öffne (8) und Sie stehen auf und drehen drei Runden hier durch mein Sprechzimmer (das maß 5 x 5 m), dann setzen Sie sich wieder und wir reden weiter. (9)

So machten wir es. Bemerkenswert war in den Folgegesprächen, daß ich stets als erstes bemerkte, wann der Tränenfluß „drohte“. Ich sprach das irgendwann an und es stellte sich heraus, daß sie erst merkte, daß sie weinte, als die Tränen sich bereits auf die Mundwinkel zubewegten. D. h. sie konnte den Tränenfluß, der sich verselbständigt hatte, selbst nicht hemmen, weil sie das zu spät wahrnehmen konnte.

Ich wiederum bemerkte bereits an einer leichten Färbung ihres Teints oder einem leichten Glanz der Augen, wann ES (Unwillkürlich) wieder losgehen würde. Ohne Rücksicht auf unseren Gesprächsfaden forderte ich Sie immer und immer wieder auf: Stop. Bitte aufstehen und 3 Runden gehen. Ich öffne das Fenster.

Schon in der 4. fast, aber in der 5. Sitzung vollständig war das Thema durch. Sie weinte nicht mehr. Keine Tränen flossen und wir konnten uns dem zuwenden, was sie konstruktiv mit Ihrer leidvollen Ambivalenz anfangen konnte. Aber das ist ein anderes Thema.

Merke: Wenn die unwillkürlichen Sequenzen ersteinmal laufen, ist kein Halten mehr. Unwillkürliche Prozesse (Impulshafte Emotionen, Affekte, Verhalten, Handlungen) können am Wirkungsvollsten gehemmt werden, je früher man den Prozeß zum Stoppen bringt.


(1) Analogie zu Tränenflüssigkeit bleibt in mir drin.

(2) Pacing mit Hinweis auf die Augen.

(3) Ein Stop ist kein Prozeß, sondern ein Augenblick und ein erster Hinweis auf eine Hemmung.

(4) Wir werden verstehen lernen.

(5) Wieder auf Augen fokussiert im Verbund mit merken, also lernen.

(6) Etwas auf die Augen legen zum Stoppen der Tränen. Deckel drauf oder so.

(7) hier im wahrsten Sinne des Wortes.

(8) Metapher wie „Mir geht ein Licht auf“ oder „ich brauche mal frische Luft“

(9) Klingt so, als ginge ich davon auf, daß die Tränen dann besiegt seien.