Theoriebildung – funktional oder dysfunktional?

Zur Geschichte der systemischen Beratung (siehe auch bei Handouts) möchte ich hier nur einen Literaturhinweis geben. Du kannst dieses und weitere Bücher in Auszügen online lesen bei Google Books:

Arist von Schlippe / Jochen Schweitzer. Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung I. Das Grundlagenwissen.

Ich habe 1981 begonnen, mit meiner Frau und 2 Kolleginnen mit Familien und Paaren zu arbeiten. Im Laufe der Zeit bis heute hat es viele Veränderungen und Wandlungen gegeben, was wir für eine funktionale Familiendynamik halten und was wir als dysfunktional empfinden oder beurteilen. Eine systemische Arbeitshaltung sollte ohnehin so geprägt sein, daß es kein richtig oder falsch gibt, sondern wirksames oder unwirksames Arbeiten. So können wir auch an Familien und andere Systeme herangehen: wie funktionieren sie wozu wirksam oder nicht wirksam.

Machen wir uns immer wieder bewußt, was wir für funktional oder dysfunktional halten wird aus vielen Beurteilungsquellen gespeißt:

1) Allgemeine psychologische, klinische, institutionelle Erfahrungen: z. B. ist sind Suchthilfe und Suchttherapie heute immer noch weitgehend individuumszentriert aufgestellt (die Abhängigkeit des Konsumenten muß behandelt werden); erst allmählich spricht sich herum, daß es das Phänomen der beziehungsgestaltenden Funktion eines Rauschmittels (Alkohol als weiteres Familienmitglied, das die Beziehungen mitgestaltet) gibt und wieviel nachhaltiger man arbeiten kann, wenn die Familie miteinbezogen wird. (Schmidt, S. 329)

2) Eigene professionelle Erfahrung (psychologisch-klinisch, sozialarbeiterisch-sozialpädagogisch-sozialtherapeutisch): im Verlauf der Berufsjahre machen wir unsere ganz eigenen Erfahrungen, was uns wirksam gelingt und was Familiensysteme ändern können, um kein Leid mehr zu produzieren. Zu diesen Erfahrungen gehört auch, welch große Spannbreite und vielseitige Palette es gibt, wie Familien kommunizieren und sich organisieren können – was der einen überhaupt nicht gut tut, funktioniert in der anderen hervorragend.
Das große Verdienst systemischer Theoriebildung und Praxis ist der Einbezug des jeweiligen Kontextes in dem (Familien-) Systeme eingebettet sind und ebenda funktionieren oder nicht.

3) Eigenes ideologisches System – Epochales – Gesellschaftliches: machen wir uns jenseits unserer professionellen Erfahrungen bewußt, welche Werte, Normen, Glaubenskonzepte uns geprägt haben, wie rigide wir an diesen hängen oder wie flexibel wir uns darin bewegen und verhalten können.

4) System-modell-immanente Funktionalität und Dysfunktionalität: Welche familiären Strukturen und Prozesse sollten wir beachten?

a) Selbstorganisation – Autoorganisation (Simon. S. 293): Der entscheidende Mechanismus ist der 1948 von Norbert Wiener beschriebene Feedback Mechanismus, der im Regelkreis wirksam wird. http://de.wikipedia.org/wiki/Norbert_Wiener . Angewendet auf Familiensysteme: welche Muster mit charakteristischen Feed-back-Schleifen, die sich gegenseitig immer wieder erneuern und bestätigen (Autopoiese), können wir beobachten, indentifizieren und beschreiben?

b) Grenzen nach Innen und Außen (Simon. S. 130): wie geschlossen, zu offen oder funktional durchlässig sind diese Grenzen?

c) Durchlässige Membran – dynamische Wechselwirkungen: in welchem Austausch mit der Umwelt befindet sich eine Familie?

d) Homöostase mit Morphostase und Morphogenese: Morphogenese bezeichnet die Neubildung und Entwicklung von Strukturen in einem System (z. B. Anforderungen in Pandemiezeiten), Morphostase die Fähigkeit eines Systems, seine Struktur in einer sich verändernden Umwelt zu erhalten, und Homöostase beschreibt das Fließgleichgewicht zwischen Stabilität und Veränderung. (Simon. S. 139 u. 224)

e) Hierarchien in Familien: das ist einer jener Aspekte, der zur Ziffer 3) paßt. In der Vor-68er-Zeit gab es einen gesamtgesellschaftlichen Konsens über familiäre Hierarchien. Vater als Familienoberhaupt, der u.a. zustimmen mußte, wenn seine Frau arbeiten gehen wollte. (Erst 1977 Änderung des Gesetzes! Siehe Focus Online) Die Hierarchie der Eltern über ihre Kinder war ebenfalls klar.
In der Nach-68er-Zeit gibt es bis heute keinen gesamtgesellschaftlichen Konsens, wie die Hierarchie der Eltern in Bezug auf die Kinder aussehen sollte. Es dürfte u.a. das Verdienst von Haim Omer sein, hierzu eine klärende Position publiziert zu haben: die alte Hierarchie setzte Autorität mit Gewalt (Prügel, Druck etc.) durch – die neue Autorität kann, darf und soll autoritär sein, sich jedoch gewaltlos verhalten. (Omer)
Weitere Aspekte zu familiären Hierarchien findest Du in Simon, S. 137.

f) immanente Funktionalität und Dysfunktionalität, die bestimmt werden durch Kulturelles, Kulturanthropologisches, Ethnologisches.

Weitere Aspekte, denen wir uns noch ausführlicher zuwenden werden, sind
– Kommunikationsaustausch
– Rollen und Funktionen
– Regeln
– Subsysteme
– Kräfte und Ressourcen
– Energien und Wachstum

Literatur:

Gunther Schmidt. Liebesaffären zwischen Problem und Lösung. Hypnosystemisches Arbeiten in schwierigen Kontexten. Heidelberg 2004
Haim Omer. Autorität durch Beziehung. Göttingen 2004
Frit B. Simon/Ulrich Clement/Herlm Stierlin. Die Sprache der Familientherapie. Ein Vokabular. Kritischer Überblick und Integration systemtherapeutischer Begriffe, Konzepte und Methoden. Stuttgart 2004