1.2.1 Vom Familiengespräch zum Elterncoaching

„Tatsächlich wurde über eine lange Zeit angenommen, daß Therapiemotivation Sache der Klientel ist, eine >Sache<, die sie mitbringt oder auch nicht. In dieser Logik muß man zuwarten, bis jemand kommt (bis er oder sie motiviert ist). Nicht wenig besorgte und Hilfe suchende Eltern bekamen dabei von fachlicher Seite zu hören: >Wenn ihr Sohn (oder ihre Tochter) nicht selber motiviert ist, mal vorbeizuschauen, dann können wir ihm (ihr) und Ihnen leider auch nicht helfen.“ (1)

Für die ratsuchenden Eltern ist Max das Problem. Wir richten den Fokus auf die Beziehungsmuster und den Kontext:

Wir verschieben in einem ersten Schritt den Problemfokus weg von Max (nicht Max ist so ...) auf sein Verhalten (…, sondern Max zeigt sich …) in der Beziehung zu diesem Elternteil so und zu jenem Elternteil anders (… in diesem und jenem Kontext jeweils wie?).

Im zweiten Schritt wird der Problemfokus im Beratungssytem (Berater und Eltern bilden das Beratungssystem.) auf die Eltern verschoben: Max‘ Verhalten ist der Beratungsanlaß für die Eltern, die ein Problem mit dem Verhalten haben. Berater und Eltern müssen sich also damit beschäftigen, was genau das Problem oder die Problemsicht der Eltern ist, wissend, daß wir Max, ob er nun an der Beratung teilnimmt oder nicht, in keinem Fall ändern können.

Im dritten Schritt können wir oder die Eltern Max bitten, zu der Beratung hinzuzukommen, um seine Sichtweise auf das Problem der Eltern beizutragen. So haben wir als Berater die Chance, verhärtete und verkrustete Sichtweisen der Familienmitglieder aufzuweichen und einem gegenseitigen vertieften Verständnis zuzuführen.

In welchen weiteren Schritten dieses möglich ist und was es zu bedenken gibt, ist hier nicht Gegenstand dieses Konzeptes, das vielmehr dort beginnt, wo der oben genannte Versuch, Max mit einzubeziehen, nicht erfolgreich ist.
Wie der Versuch unternommen werden kann, einen Max an der Beratung zu beteiligen, wird von Jürg Liechti * beschrieben.

Vielleicht verlaufen die familiären Strukturen zu lange schon in sich gegenseitig verstärkenden Verhaltensweisen und die Angst vor einer unbekannten Veränderung ist größer als die Vorstellung, das Leid noch eine Weile zu ertragen. Oder Max konsumiert bereits schon viel zu lange und ihm gibt der Konsum den einzig vorstellbaren Halt für die Alltagsbewältigung.

Wenn sich ratsuchende Eltern melden, sollten wir bei Suchtpräsenz offensiv deutlich machen, daß die Eltern zunächst zu einem Erstgespräch ohne den betroffenen Jugendlichen kommen und dieses auch heimlich tun, d. h. ohne Wissen des Jugendlichen. Optimal ist es, wenn beide Eltern am Erstgespräch teilnehmen, um einen Eindruck von ihren gemeinsamen, aber auch unterschiedlichen Sicht- und Umgangsweisen mit der Suchtpräsenz vermittelt zu bekommen.

Ob wir uns nach dem Erstgspräch entschließen, den Jugendlichen ebenfalls um eine Teilnahme an der Beratung zu bitten, hängt von den folgenden Fragestellungen ab:

Hat der Jugendliche einmaligen Probierkonsum gezeigt bzw. können wir davon ausgehen, daß der nur wenige Male erfolgt ist?

Viele Eltern haben damit ein Problem. Oft haben sie selbst keine Erfahrung mit Rauschmittelkonsum und wenig Informationen über die verschiedenen Rauschmittel und ihre jeweilige Wirkung. Dann sollte für eine umfassende Information gesorgt und besonders die Frage gestellt werden, warum diese Eltern es für möglich oder gar wahrscheinlich halten, daß sie bereits bei Probierkonsum die Gefahr einer Abhängigkeitsentwicklung sehen. Fragt man Eltern, was sie glauben, wie hoch der Prozentsatz an Abhängigen in der Gesamtbevölkerung ist, werden oft Zahlen von 20-30 % genannt. Die Informationen der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen www.dhs.de/datenfakten.html wird manche Annahme relativieren. Mit Ausnahme der Tabakabhängigkeit (ca. 9 % der 18-64 Jährigen) liegt der Anteil der Alkohol-, Drogen- und Medikamentenabhängigen Erwachsenen bei ca. 3 %, davon 0,5 % Cannabisabhängige.

Es ist also bei Probierkonsum völlig offen und ungewiß. ob eine Abhängigkeit entwickelt wird. Bedeutsam ist eher die Frage an die Eltern: „Warum glauben Sie, daß Max zu den 0,5 von 100 Jugendlichen gehört, der eine Cannabisabhängigkeit entwickeln wird?“

In diesem Fall haben die Eltern ein Problem, obwohl Max weder ein Problem selbst beschreiben würde noch eines zeigt. Die Eltern müssen mit Hilfe der Beratung lernen, wie sie damit zurecht kommen, daß Max nun in einem Alter ist, die Welt auszuprobieren und wie sie mit ihm darüber ins Gespräch kommen, ohne die Pferde scheu zu machen und Prozellan zu zerschlagen.

Zeigt der Jugendliche bereits mehrere Wochen Rauschmittelkonsum und negative Verhaltens- und Wesensveränderungen?

Jetzt können wir davon ausgehen, daß nicht nur die Eltern ein Problem mit dem Konsum haben, sondern auch Max würde vermutlich selbst sagen, daß der Konsum negative Nebenwirkungen zur Folge hat. Auch die Beziehung zu den Eltern würde er vermutlich als verbesserungswürdig beschreiben.

Ob wir den Jugendlichen in die Beratung einbeziehen, hängt nun davon ab, wir verhärtet die Fronten zu Hause bereits sind. Dazu gehört besonders auch das elterliche Verhalten auf das wir bei den Kontraindikationen ausführlicher zu sprechen kommen. Für die Entscheidung, ob wir Max in diesem frühen Beratungsstadium einbeziehen, sollten wir mir den Eltern überlegen, was sie schon alles versucht haben, um mit Max über den Konsum zu sprechen, wie bedrohlich der Konsum wirkt und wie fortgschritten er sein mag. Wie groß mag das Risiko sein, daß Gespräche mit Max scheitern könnten, z. B. weil er nicht konsumfrei zu den Gesprächen erscheinen würde.

Ginge es bei der Einbeziehung von Max nur um eine Informationsgewinnung könnten wir ihn zum Gespräch bitten. Wir würden einiges erfahren, mehr aber auch nicht. Geht es aber darum, die Eltern und Max über gemeinsame und unterschiedliche Problembeschreibungen miteinander ins Gespräch zu bringen, brauchten wir einen Max mit klarem Kopf. Hier sind die Eltern jene Experten, die einschätzen müssen, ob Max konsumfrei an den Gesprächen teilnehmen würde und könnte. Scheint das eher fraglich, entscheiden wir uns lieber gegen eine Beteiligung und für das Elterncoaching: Zum Glück gibt es in der Hypnotherapie die Strategie der Utilisation. Das was im Wege steht, wird nutzbar gemacht: Wenn die Jugendlichen sich an der Beratung nicht beteiligen wollen oder können, werden wir sie „ausschließen“ und ausschließlich mit den Eltern arbeiten.

Der Jugendliche konsumiert keine Rauschmitel, sondern hat sich in seinem Zimmer eingeigelt und sitzt nur noch am PC.

Auch bei diesem Jugendlichen müssen wir zunächst mit den Eltern überlegen, wie lange und wie leidvoll die familiäre Beziehung schon dauert und wie sehr sich der Jugendliche verändert hat. Was haben die Eltern schon versucht, um mit diesem Max ins Gespräch zu kommen? Gibt es bekannte Gründe für die Abschottung?

Auch hier können die Eltern viel besser als der Berater abschätzen, wie bedrohlich die Bitte, sich an der Beratung zu beteiligen, wäre? Und würde Max nur den Eltern zu liebe einmal mitkommen, aber die bereits fortgeschrittene Antriebs- und Mutlosigkeit es wahrscheinlich macht, daß sich Max zu Folgegesprächen nicht aufraffen könnte. Dann würden wir einen Mißerfolg zusteuern und beginnen lieber ohne Max.

Noch ein übergeordneter Aspekt: Wieviel Autorität und Gleubwürdigkeit haben alle diese Eltern schon gegenüber ihrem Max eingebüßt?

Das insbesondere Eltern, die sich an eine Einrichtung der Suchthilfe wenden, das Risiko eingehen, ihrem Max die Suggestion zu verpassen, er könnte süchtig werden, haben wir schon erwähnt. Aber die Eltern gehen selbst auch ein Risiko ein, würde Max sich zunächst an der Beratung beteiligen, dann aber wegbleiben. Er wird dann seine Gründe haben. die muß man respektieren. Dann jedoch kann Max davon ausgehen, daß sich die Eltern weiter in Beratung befinden und alle folgenden Änderungen, die die Eltern vornehmen, kann Max der Beratung zuschreiben. Das würde die elterliche Reputation schmälern und Max könnte bei gravierenden Veränderungen denken und sagen: „Aha. Hat Euch der Berater wieder etwas vorgeschlagen!?“ Die ohnehin in Mitleidschaft gezogene Autorität und Glaubwürdigkeit der Eltern würde weiter leiden. Dabei sehnen sich gerade auch diese Jugendlichen so sehr nach Eltern, die klare Standpunkte haben, eine Ankerfunktion (2) ausüben, den Fels in der Brandung darstellen.

Wir Berater sollten also sehr gut mit Eltern überlegen, wie groß die Chance ist, daß Max nicht nur kommen wird, sondern auch interessiert ist an einer neuen Beziehungsgestaltung in der Familie und auch aufgrund seiner aktuellen Entwicklung in der Lage sein wird, an einem längeren Beratungsprozeß mitzuarbeiten.


(1)  Jürg Liechti. Dann komm ich halt, sag aber nichts. Motivierung Jugendlicher in Therapie und Beratung.

(2) Haim Omer. Wachsame Sorge. Wie Eltern ihren Kindern ein guter Anker sind