9.4 Suchtpräsenz – Familie in der Krise

Eltern in der Pubertätsphase stehen in dem Spannungsfeld der Fürsorge für ein Kind, das nicht wirklich mehr ein Kind ist und dem Gewähren damit der Jugendliche eigene Erfahrungen machen und sich in der Beziehung zur Welt ausprobieren kann. Haim Omer (1) nennt die wünschenswerte Haltung der Eltern fürsorgliche Aufmerksamkeit.  Beginnt eine Phase beim Jugendlichen, in der er aus der Sicht der Eltern unerwünschtes Verhalten (Rauschmittelkonsum, übertriebener Mediengebrauch) zeigt, können Eltern dies eine Weile ignorieren, um ungewollte Verstärkung durch Zuwendung (2) zu vermeiden. Sie werden aber an Tagen, an denen kein unerwünschtes Verhalten gezeigt wird, versuchen, über dieses Verhalten, das der Jugendliche in der Beziehung zu ihnen zeigt, mit ihm ins Gespräch zu kommen. Mitunter haben dann aber schon Rauschmittel oder der Medienhype jene phantastische Anziehungskraft gewonnen und das jugendliche Hirn und die Psyche so besetzt, daß kein offenes Ohr für die Eltern mehr frei ist. Manchmal ist der Zeitpunkt, zu dem noch ein freundliches und auf gegenseitiges Verstehen angelegtes Gespräch möglich gewesen wäre, verpaßt.

Wenn Eltern dann nicht fürsorglich und zuwendend gestimmt und gleichzeitig beharrlich dran bleiben, daß man doch miteinander reden sollte, wird die Affinität zu den neuen Lebenserfahrungen immer intensiver werden. Gleichzeitig nehmen die Offenheit des Jugendlichen und seine zwischenmenschlichen und sozialen Kompetenzen ab.

Wer kann es Eltern verdenken, wenn sie dann nicht beharrlich und zuversichtlich bleiben, sondern von der fürsorglichen (offenen) zu einer fokussierten Aufmerksamkeit (3) wechseln. Der Konsum oder Gebrauch steht immer mehr im Mittelpunkt des Geschehens und der Aufmerksamkeit und fast unmerklich werden „Restbestände“ an Kompetenzen und Beziehungsfähigkeit des Jugendlichen von den Eltenr selbst dann nicht mehr wahrgenommen, wenn sie ab und zu doch gezeigt werden.

Da ich im Elterncoaching zunächst die Jugendlichen nicht kennen lerne und auf die Erzählungen der Eltern angewiesen bin, formt sich in mir immer wieder das imaginierte Bild eines Jugendlichen, das mit dem, den ich dann später eventuell kennenlerne, kaum in Übereinstimmung zu bringen ist. Die Eltern malen oft ein „wüstes“ Bild und ich treffe dann auf so nette und sympatische Jugendliche. Wobei die Eltern zuvor oft auch schon berichteten, daß Verwandte und Freunde der Eltern, ihren Jugendlichen als netten und höflichen Menschen erlebten.

Ich bezeichne dieses Beziehungsmuster der fokussierten Aufmerksamkeit auf Konsum oder Mediengebrauch als Suchtpräsenz. Das Wortspiel Elternpräsenz statt  Suchtpräsenz bietet sich an. Es enthebt uns Berater und die Eltern der Verlegenheit mit einer Diagnose hantieren zu müssen, die allzu schnell zu einer Pathologisierung des Jugendlichen führen könnte. Wir begnügen uns zunächst damit, daß Suchtpräsenz beschreibt, daß das Objekt der Begierde (Droge oder PC) im psychischen System des Jugendlichen offenbar eine überhand nehmende Präsenz gewinnt oder schon gewonnen hat. Und weiterhin ist der Präsenzbegriff kein ausschließlich auf ein Individuum zielender, sondern benennt auch ein Beziehungsmuster.

Wenn Suchtpräsenz in Bezug auf das psychische System des Jugendlichen meint, daß die Bedeutung des Rauschmittels oder eines Mediums im Verhältnis zu den anderen Lebensbereichen eines Jugendlichen überhand nimmt und jene anderen Lebensbereiche vernachlässigt werden, dann wird dieser Jugendliche auf das Objekt der Begierde über Maßen fokussiert sein und er und seine Eltern müssen sich irgendwann die Frage stellen, ob der Jugendliche noch über eine eigene Selbstkontrolle verfügt oder dabei ist, sie zu verlieren.

Das setzt aber die Annahme voraus, daß er jemals über eine zuverlässige Selbstkontrolle verfügt hat und ihn seine Eltern in Bezug auf das Erlernen von Selbstkontrolle trainiert haben. Manfred Spitzer hat in seinem Beitrag Entwicklungspsychopathologische Aspekte der Medien- und Computersucht (4) beschrieben, wie, warum und in welchem Maße Kinder Selbstkonrolle lernen sollten und wie dieses vor Sucht schützen kann.

Und es setzt die Annahme voraus, die Eltern verfügten ihrerseits über eine zuverlässige Selbstkontrolle und zwar in allen Lebensbereichen. Sie wären sonst weder ein gutes Vorbild und Modell für ihre Kinder noch könnten sie diese anleiten, Selbstkontrolle zu lernen.

Daß die Übergänge von Selbstkontrolle zur Impulskontrollstörung fließend sind, muß nicht extra betont werden und an welchen Stellen die Grenzen von Funktionalität, Normalität, Dysfunktionalität und Pathologie zu ziehen sind, werden wir hier nicht klären und festlegen können.

Wir stellen aber in der Ausgangssituation, in der Eltern in Beratung kommen, fest, daß beide Seiten, Eltern wie Jugendlicher, ein gehörig Maß an Selbstkontrolle nicht (mehr) wahrnehmen. Der Jugendliche vernachlässigt wichtige Lebensbereiche und gibt sich anderen hin. Die Eltern versuchen zu intervenieren und zeigen immer wieder mehr derselben Kommunikation, obwohl sie schon im Ansatz „wissen“, daß sie nicht die gewünschte Wirkung erzielen, sondern eskalierende Konfliktsituationen in Gang setzen.

Machen wir eine Rechnung auf:

Der Jugendliche zeigt wenig oder keine Selbstkontrolle in Bezug auf Drogen- oder Medien-Gebrauch.
+ Die Eltern zeigen wenig oder keine Selbstkontrolle in der Kommunikation mit ihrem Jugendlichen.
= Suchtpräsenz (niemand zeigt mehr Selbstkontrolle)

Um möglichst schnell in Erfahrung zu bringen, ob Selbstkontrolle bei möglichst vielen Systemelementen möglich ist, verzichten wir im Elterncoaching die Komplexität der Szene in Betracht zu ziehen:

  • diagnostizierte Störungen, wie z. B. ADS oder ADHS, in der Vorgeschichte nehmen wir zur Kenntnis, bewerten sie aber nicht prognostisch. Ich habe so viele Jugendliche mit diesen Diagnosen erlebt, die im Rahmen der Entwicklung von Konsumfreiheit ganz neue Kompetenzen entwickelt haben.
  • sogenannte Erziehungsschwierigkeiten würdigen wir als leidvolle Erfahrungen, ebenfalls ohne prognostische Bedeutungsgebung.
  • Mehrgenerationendynamiken wohnt eine gewisse Wirkung inne, die wir jedoch diagnostisch ebenfalls nicht ergründen und aufgreifen. Ausnahme: Mehrgenerationenhaushalte.

An dieser Stelle sollten wir uns noch einmal in Erinnerung rufen, daß dieses Elterncoaching dort beginnt, wo andere Beratungs- oder Therapieversuche geendet haben.

Ich habe mit vielen Eltern gearbeitet, die schon Vorerfahrungen mit anderen professionellen Beratungen hatten, die sie jedoch als nicht hilfreich erlebt hatten. Das habe ich nicht zu kritisch zu bemerken, denn vor der Entdeckung der Sendepause und der Entwicklung der nachfolgenden Strategien hatte ich ähnlich gearbeitet, weil ich die wirksame Änderung der Kommunikation noch nicht verstanden hatte.

Um möglichst schnell in Erfahrung zu bringen, ob Selbstkontrolle bei möglichst vielen Systemelementen möglich ist, verzichten wir auf Bewertungen der Vorgeschichten und konzentrieren uns auf das Subsystem Eltern und bieten ihm eine Änderung seines Aggregatzustandes an verbunden mit der Zuversicht, daß die Änderung eines Subsystems die Änderung anderer Systemteile nach sich ziehen wird – ohne zu wissen (Therapeutendilemma), wie sich diese Änderung zeigen wird: Individuation mit oder Individuation gegen (5) – das ist hier die Frage.


(1) https://www.socialnet.de/rezensionen/19878.php

(2) https://de.wikipedia.org/wiki/Verst%C3%A4rkung_(Psychologie)

(3) https://systemagazin.com/wachsame-sorge-wie-eltern-ihren-kindern-ein-guter-anker-sind

(4) In Christoph Möller (Hrsg.), Internet- und Computersucht. Ein Praxishandbuch für Therapeuten, Pädagogen und Eltern, Stuttgart 2015, S. 89 ff

(5) Individuation mit oder gegen – siehe Helm Stierlin, Gerechtigkeit in nahen Beziehungen. Heidelberg 2007