4.1 Reduzierung kommunikativer Komplexität

Wenn Eltern neu in die Beratung kommen, berichten sie über die bisherigen Versuche, auf Max‘ Rauschmittelkonsum (oder auch Gebrauch von Medien) Einfluß zu nehmen. Meist ist ihnen selbst kaum bewußt, welches Ziel sie dabei verfolgen: Soll Max weniger konsumieren oder gar nicht? Es gibt auch Eltern, die kundtun, es sei ihnen lieber, er kiffe mit seinen Freunden bei ihnen zu Hause als anderswo, dann hätten sie (die Eltern) das ja unter Kontrolle. Weitere Varianten erspare ich uns hier.

Mein Angebot ist das Ziel der Konsumfreiheit. Um Mißverständnissen vorzubeugen, die ich schon erlebt habe, ich meine, sofern es um Selbstschädigung geht, „absolute und 100 %ige“ Konsumfreiheit. Die Redundanz sollte man zur Klarstellung benutzen, ebenso wie die Analogie, man, respektive frau könne ja auch nicht ein wenig schwanger sein. Alles oder nichts.

Dann berichten Eltern, was sie in den letzten Wochen, Monaten, Jahren schon alles kommuniziert haben, um Kontrolle über Max zu gewinnen:
– wir wollen nicht, daß Du kiffst.- wir wollen nicht, daß Du rauchst. (Tabak)
– Räum mal wieder Dein Zimmer auf.
– Kannst Du mal den Rasen mähen.
– Der Mülleimer muß mal wieder raus. (Mein Kommentar: Warum müssen sich Kinder in Deutschland eigentlich immer um dem Müll kümmern?! Auch dazu wird es noch einen Beitrag geben: Pflichten der Eltern – Pflichten der „Kinder“.)
– Räum doch endlich mal Deine Teller in die Spülmaschine.
– mußt Du immer Deine Sachen rumliegen lassen?!

und dergleichen mehr. Ein jugendliches Gehirn befindet sich bis ca 25 im Umbau und ist phasenweise von wechselhaften Zuständen gebeutelt. Je mehr Input wir anbieten, desto wahrscheinlicher erzeugen wir einen Zustand kognitiver Überladung und erreichen „einen Kapazitätsüberschuß der Kommunikation über das Bewußtsein; denn die Kommunikation synthetisiert Information, Mitteilung und Verstehen in einer Weise, die das Einzelbewußtsein nie ganz nachvollziehen kann.“ (Luhmann, Seite 73, siehe unten)

Wenn wir nicht gerade Hypnotherapeuten und geschult darin sind, daß „Sprache durch ihre formale Prägnanz derart aufdringlich ist, daß sie viel Bewußtsein an sich zieht, an sich bindet und das Bewußtsein nicht selten der Faszination durch das erliegt, was es gerade sagt oder hört und dann gleichsam willenlos der Kommunikation folgt.“ (Luhmann, Seite 72, siehe unten) dann erreichen wir das Gegenteil: das Gehirn, mit dem wir kommunizieren, schaltet aufgrund kognitiver Überladung (siehe unten Dirk Revenstorf) ab und erleidet einen „zerebralen Systemabsturz“ – wunderbar beschrieben im Roman „Der Rosie-Effekt“ (siehe unten).

Wenn Sie ihrem Computer zu viel zumuten, wird er unkontrollierte Reaktionen zeigen. Wenn man mit zu viel Informationen in zu kurzer Zeit einen Menschen konfrontiert, ihn sozusagen in Trance redet, kommt der Zeitpunkt, an dem der andere realisiert, daß mit ihm etwas gemacht wird, was sich der eigenen Kontrolle entzieht und weil er sich ü b e r redet fühlt, reagiert er unweigerlich mit der Angst,  okkupiert zu werden und wehrt sich mit Aggression: „Laß mich in Ruhe!“ „Was willst Du von mir!“ „Komm mal auf den Punkt!“ „Laber nicht rum!“

Max zur Konsumfreiheit zu überreden, funktioniert also nicht. Er wird aversiv reagieren. Max mit anderen Kontexten zu konfrontieren – Aufräumen, Spülmaschine, Müll, etc. – führt in der Regel ebenfalls zu aversivem Verhalten. Wenn schon den Eltern nicht bewußt ist, um was es denn wirklich geht (Konsumfreiheit), wie soll dann Max verstehen, um was es geht und was die Eltern wirklich und existentiell von ihm wollen. Möglicherweise ahnt oder spürt Max das Existentielle an der Mitteilung, versteht aber die Informationen aufgrund ihrer Vielfältigkeit und Komplexität nicht: Konsumfreiheit – Spülmaschine – Zimmer aufräumen – Konsumfreiheit – Müll – Rasenmähen – Konsumfreiheit – Schmutzwäsche hinlegen – Konsumfreiheit – Nicht rauchen – Konsumfreiheit – Spülmaschine – Zimmer aufräumen … es entsteht intensive Verwirrung und Unklarheit, die Ärger, Frust, Wut und andere diffuse Affekte bewirkt.

Besinnen wir uns auf die zielorientierte Strategie: Wenn etwas funktioniert mach mehr davon, wenn etwas nicht funktioniert, mach etwas anderes. Weil nun Eltern nichts anderes mehr einfällt, kommen sie zu uns in das Elterncoaching.

Und als Coach müssen wir den Eltern sagen: Sie reden zu viel! Sie reden zu unklar! Was wollen Sie wirklich und existentiell? Konzentrieren Sie sich auf den eigentlichen Sinn. Um was geht es Ihnen? Und warum kommen Eltern in die Drogen- oder Suchthilfe? Weil sie wollen, daß ihre Kinder konsumfrei leben sollen. Also lassen Sie uns darum kümmern, indem Sie nichts anderes mehr kommunizieren als: Max, wir möchten, daß Du konsumfrei lebst! Keine Spülmaschine, kein Zimmer aufräumen, kein Müll, kein Rasenmähen, nichts dergleichen.

Wir reduzieren die Komplexität alltäglicher Probleme auf die eine existentielle Botschaft:

Max, wir möchten, daß Du konsumfrei lebst.


Niklas Luhmann, Selbstreferentielle Systeme. in Fritz Simon Hrsg., Lebende Systeme. Wirklichkeitskonstruktionen in der systemischen Therapie. 1997

Graeme Simsion, Der Rosie-Effekt. 3. Kapitel

Dirk Revenstorf, Burkhard Peter, Hypnose in Psychotherapie, Psychosomatik und Medizin: Manual für die Praxis, Seite 212