11.3.2 Reaktion mit (zu-) viel Individuation

In nur enigen Fällen wird ein Max auf die Sendepause entweder nicht spürbar reagieren oder mit übersteigerter Individuation. Max könnte sich bei Medienpräsenz noch mehr in seinem Zimmer verbarrikatieren oder bei Konsum noch weniger zu Hause sein.

Während Eltern bei der Bezogenheitsvariante sehr entspannt sein können, wirkt die Reaktion der Überindividuation auf Eltern entmutigend bis schockierend, hatten sie doch all ihre Hoffnung auf diesen Coach und dieses Konzept gelegt.

Besonders die häufige Abwesenheit stellt das Coaching vor Geduldsproben. Nicht nur die Eltern werden sich im Verlauf immer wieder fragen, ob es Sinn macht, noch weitere Versuche zu unternehmen, Max irgendwie zu erreichen, wo er sich doch entzieht. Auch den Coach erwischen mitunter heftige Gegenübertragungsreaktionen, er habe bisher versagt, er habe etwas übersehen, er sei verantwortlich, wenn Max möglicherweise nicht überleben würde usw. Es ist also für Eltern wie für den Coach harte Arbeit, immer und immer wieder Zuversicht zu mobilisieren und sich bewußt zu machen, daß Eltern nicht aufgeben können, sich für die Gesundheit ihrer Kinder einzusetzen. Und wenn der Coach das von den Eltern erwartet, kann er selbst auch die Eltern nicht im Stich lassen, sondern muß sich für die Stärkung dieser Eltern einsetzen und ihnen beistehen bis Max auf einem guten Weg ist.

Der Coach sollte daher tunlichst mit den Eltern in der Vorbereitung auf die Sendepause ausführlich über diese beiden Reaktionsvarianten sprechen. Bei der Bezogenheitsvariante ist die Wahrscheinlichkeit, relativ schnell Einfluß auf die Suchtpräsenz nehmen zu können, hoch. Bei der Individuationsvariante beurteile ich die Chance immer noch als gut, jedoch werden die Eltern und der Coach mehr Geduld, Kraft, Kreativität und vor allem Zeit benötigen. Kurz gesagt: bei Bezogenheit geht es schneller, bei Individuation dauert es lang bis länger, aber zum Erfolg, d. h. zur Konsumfreiheit werden wir auf jeden Fall kommen! Denn weder Coach und schon gar nicht die Eltern werden und können Max aufgeben, sondern müssen sich für Konsumfreiheit solange einsetzen bis sie erreicht ist!

Die Zuversicht, daß auch diese Jugendlichen zu erreichen sind, wird genährt aus dem Glaubenssatz und der Haltung, daß alle diese Jugendlichen ihre Eltern lieben und sie ihre Eltern eigentlich auch noch brauchen und eine tiefe Sehnsucht nach haltgebenden Eltern und dem Bindungsswunsch an eine Familie besteht. Das zeigt sich immer und immer wieder bei jedem Max, den wir erreicht haben und der sich innerhalb einer neuen Eltern-Max-Beziehung zur Konsumfreiheit entschließt. Dann kann an der Weiterentwicklung dieser Beziehung gearbeitet werden und Max wird zeigen, wie froh er ist, daß die Eltern für ihn auf eine altersgemäße Weise immer noch da sind und er zu einer Familie gehört. „Das Bild vom Lösen oder Brechen der Bindungen mit den Eltern im Jugendalter ist also falsch. Im Gegenteil, die Hälfte der von uns untersuchten Jugendlichen nutzten nach eigenen Angaben die Eltern immer noch als Sicherheitsbasis, wenn ihr Bindungssystem aktiv war und ihre selbständigen Bewältigungsversuche unzureichend waren.“ (1)

Keine Regel ohne Ausnahme: Ich hatte in den 14 Jahren Arbeit mit dem Elterncoaching nur eine Handvoll Jugendlicher, die keinen Bezug zum Elternhaus wollten. Vorausgegangen waren Mißhandlungen in der Kindheit. Die tiefe Enttäuschung über die mißhandelnden Eltern konnte nicht wieder gut gemacht werden.


(1) Grossmann und Grossmann. Bindungen – das Gefüge psychischer Sicherheit. 2004. S. 477