11.3.1 Reaktion mit Bezogenheit

Max füllt das entstandene Beziehungsvakuum, indem er vermehrt auf die Eltern zukommt. Max reagiert mit Bezogenheit.

Als ich 2002 mit den ersten Eltern begann, gingen wir aufgrund fehlender Erfahrungen experimentell vor nach dem Prinzip Versuch und Irrtum. Was wir dann als Reaktion auf die elterlichen Sendepausen erlebten war nicht nur erstaunlich, sondern fast unglaublich. Aufgrund der zurückliegenden zahlreichen Erfahrungen kann ich heute sagen, daß die Mehrzahl der Jugendlichen mit mittlerer bis starker Bezogenheit auf die Sendepause reagieren.

Nur wenige Jugendliche reagieren nicht mit einer  Änderung oder gar mit übersteigerter Individuation, d. h. es wird weiter konsumiert oder gesurft und gespielt, sich verbarrikatiert oder noch mehr Abwesenheit vom Elternhaus gezeigt.

Betrachten wir zunächst jene, die mit Bezogenheit reagieren. Sie zeigen typische immer wiederkehrende Reaktionen:

  • Wider Erwartungen steht Max morgens pünktlich auf, macht sich für die Schule fertig und geht.
    Max kommt (oft anders als bisher) sofort nach der Schule nach Hause. Er möchte, ebenfalls anders als sonst, über Schule berichten. (Wird aber von den Eltern ausgebremst mit Hinweis auf die Sendepause.)
  • Max will aus dem Haus gehen und fragt, ob er etwas mitbringen könne. Er käme am Supermarkt vorbei.
  • Max fargt, ob er am Freitagabend auf die Feier eines Schulfreundes gehen kann. Nach dem elterlichen Hinweis auf die Sendepause beschließt er, zu Hause zu bleiben.
  • Max soll werktags um 22 Uhr zu Hause sein. Um 21.50 schreibt Max (zum ersten Mal wieder seit Wochen) eine SMS, er käme 10 Minuten später, weil die Bahn Verspätung habe.
  • Max fragt Vater: Es ist so schönes Wetter. Ich könnte mal den Rasen mähen / das Auto waschen / die Garage aufräumen … das sind keine erfundenen Beispiele. Das hat alles mal ein Max „erfunden“. Der Vater reagiert aber in dieser Phase natürlich immer mit „Max, wir machen Sendepause.“
  • Max zur Mutter: Ich räum dann mal die Spülmaschine.

Es wird geräumt, das Zimmer geputzt, eingekauft, gekocht, nichts mehr liegen gelassen, der vielfache Versuch gemacht, aus dem eigenen Leben zu erzählen und zu berichten –

Kurzum, die Gruppe Max reagiert mit ganz überraschenden bezogenen Reaktionen. Das freut den Coach, denn nun kann er den Eltern sagen: Max reagiert auf Ihren Rückzug mit Bezogenheit. Max liebt Sie. Max braucht Sie. Hier haben wir eine wertvolle Ressource, die genutzt werden kann.

Die gezeigte Bezogenheit wird den Eltern die Chance geben, an Max anzukoppeln. Wir erinnern uns: lebende Systeme sind operational geschlossene Einheiten, die selbst bestimmen, wer an sie andocken darf und wer nicht. Max zeigt, daß seine Systemgrenzen zu den Eltern nicht völlig geschlossen sind, sondern daß er ankoppeln möchte, daß seine Selbstreferenz für seine autopoietischen Möglichkeiten nicht ausreicht und er die Fremdreferenz durch die Eltern wünscht. Oder umgangssprachlich ausgedrückt: Max ist mit seinem Alltagslatein am Ende und braucht den Kontakt zu den Eltern, um sich im Alltag wieder sicher fühlen zu können.

Aufgrund der zurückliegenden Familienerfahrung dürfte allen Beteiligten deutlich geworden sein, daß eine Rückkehr zu den früheren Kommunikations- und Beziehungsmustern keinen Sinn macht. Jetzt muß Neues gestaltet werden, wozu wir in den Abschnitten nach der Sendepause kommen werden.

Wenn Max auf die Sendepause mit Bezogenheit reagiert, können wir davon ausgehen, daß genügend Bindung zwischen Eltern und Sohn vorhanden ist. Dies wird die Grundlage sein, auf der die Eltern weitere behutsame Veränderungsschritte unternehmen können, mit dem Versuch an Max anschlußfähig zu werden und der Suchtpräsenz etwas Gesundes entgegenzusetzen. Die Prognose ist in diesen Fällen günstig.