12.2.10.2 Maximale Übereinstimmung bei minimaler Abweichung

Stell Dir vor, Du hast Dein Kleinkind auf dem Wickeltisch liegen und während Du so „nebenbei“ die Windel wechselst, herzt Du mit Deinem Kind herum: es juchzt – Du juchzt mit; es brabbelt – Du brabbelst nach (1); es grimassiert – Du ziehst die Grimasse nach .. d. h. Du imitierst auf vielen Ebenen, das was Dein kleines Kind macht.

Du bemühst Dich unbewußt – bewußt um eine Imitation, um Übereinstimmung, Nähe, Bindung – Verbindung herzustellen.

Darüber lernt Dein Kind „so ganz neben bei“ da ist ja jemand, der versteht mich. Der ist so wie ich. Hurra. Der ist gleich mir … Ist der nun Ich oder sind wir Eins oder bin ich Der oder ist der Ich oder was ???

Siehe auch http://mentalisierung.net/die-entwicklung-der-mentalisierungsfahigkeit/

Eine der „Zauberformeln“ ist: Maximale Übereinstimmung bei minimaler Abweichung

Maximale Übereinstimmung zeigt Deinem Kind, daß Du mitschwingst, daß Du es „erkennst“, daß Du es verstehst – ja mit ihm Eins bist. Aber die perfekte Übereinstimmung wäre dann doch nicht perfekt, denn dann wären wir beide ja wie Eins und das ist ja nicht die Realität. Um zu lernen, daß bei beinahe perfekter Übereinstimmung, Spiegelung, wir dann doch Zwei sind, ein Ich und ein Du, braucht es die minimale Abweichung.

Die minimale Abweichung bewirkt, daß Dein Kind nach und nach lernen kann, das Gegenüber (also Du) ist nicht haargenau so wie ich (also sind wir nicht identisch und damit auch nicht Eins), sondern ziemlich ähnlich und dabei doch ein klein wenig anders, also sind wir gleich/aber ähnlich und doch unterschiedlich/aber ähnlich.

Soweit der Ausflug in die Entwicklungspsychologie und nun der Einflug in die Beratung und die Psychotherapie:

Bestimmte Variationen der Normalität (man könnte auch traditionell Störungsbilder sagen, z. B. Suchtpräsenz, Borderline, Psychosen) benötigen Therapeuten, um u. a. einen zuverlässigen Abgleich von Fremdreferenz zu Selbstreferenz zu erfahren und zu lernen. Siehe Roland Schleiffer. Das System der Abweichungen. Eine systemtheoretische Neubegründung der Psychopathologie.

Also, wie nehme ich mich selbst wahr, wie nehme ich andere Personen und die Kontexte wahr, und wie nehmen mich eigenlich die anderen wahr, und wie stimmen diese Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung überein, und wie unterschiedlich und in welchen bedeutsamen Aspekten sind sie unterschiedlich oder stimmen sie überein, und was bedeutet das alles für mein Selbstbild, meine Persönlichkeit, und kann ich das alles übereinbringen, also integrieren oder (dann geht es möglicherweise hin in zu korrigierender Beratung oder Psychotherapie) ist mir manches davon so fremd oder konflikthaft, daß ich das alles eben nicht übereinbringe und eben nicht in mich integrieren kann oder konnte.

Eine unter vielen Aufgaben des Beraters / Therapeuten ist es, im Sinn einer Antwort* auf die bedeutsamen d. h. konstruktiven und förderlichen Aspekte des Innenlebens des Patienten / Klienten zu spiegeln auf allen Ebenen (Verhalten, Kognitionen, Emotionen, Affekte) – nahezu identisch, was man zum Glück sowieso nicht vollkommen kann, so daß sich der Patient in seinen eigenen Aspekten einerseits „erkannt“ und verstanden fühlt, aber durch den (minimalen) Unterschied merkt, Ich bin Ich und Du bist Du – für viele „Störungen“ bzw. Abweichungen ein bedeutsamer psychischer Lernvorgang.

Das würde für Eltern bedeuten:

Ob für Kleinkinder oder Pubertierende: Du zeigst, daß Du (sie) verstehst – ob emotional (Gefühl, Tagesverfassung, Stimmung) oder Reaktion (Affekt) oder kognitiv (Verstand, Denken), zeige es, mach es deutlich, aber sei nicht (immer) der gleichen Meinung, sondern mach, je nach Alter bitte zunehmend, deutlich, daß Du doch anders fühlst und anderer Meinung bist und dabei bleibst und die Diffenrenz akzeptierst und aushälst.

Daran lernen Kinder / Jugendliche, daß sie selbst eigenständige Wesen sind und lernen, daß Du kein frei verfügbarer herumzuschiebender Gegenstand  bist, sondern ebenfalls eine eigenständige Persönlichkeit bist, mit einem manchmal gleichen oder ähnlichen oder ganz andern Willen bist – auf jeden Fall bist Du kein verfügbarer Gegenstand, sondern eine eigenständige Person mit der man sich auseinandersetzen kann oder und auch arrangieren (lernen) muß.


(1) Interjektionen siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Interjektion