11.4 Konsum gegen nervende Eltern

Die Sendepause soll als Instrument der Diagnostik noch zu einer weiteren Erkenntnis verhelfen:

Konsumiert Max „nur“ deshalb, weil die Eltern so sehr nerven und er momentan keine andere Lösung sieht, als sich dem Nerven (nicht den Eltern!) mittels Konsum zu entziehen?

Insbesondere bei Beratungsfällen, in denen die Konsumgeschichte noch relativ jung ist, muß man mit dieser Variante rechnen. Bereits die Ankündigung der Sendepause mit ihrem Fokus „Wir Eltern müssen uns ändern!“ zeigt bei der Gruppe dieser Jugendlichen schon deutliche Reaktionen, indem sie sich sehr bezogen während dieser 14 Tage verhalten. Sie suchen immer wieder Kontakt, nicht unbedingt, indem sie das Gespräch suchen, sondern durch eine andere Art als bisher, ihre Präsenz als Tochter oder Sohn zu zeigen. Sie sind bei den Mahlzeiten zugegen. Sie setzen sich abends zu den Eltern ins Wohnzeimmer und schauen mit Fernsehen. Sie beteiligen sich, natürlich unaufgefordert – es ist ja Sendepause – an der Hausarbeit und vieles mehr.

Selbst nach so vielen Jahren und so vielen Eltern, die ich begleitet habe, bin ich immer wieder überrascht und freudig erstaunt über die berührende Vielfalt jugendlicher Bezogenheiten. Das macht Hoffnung und stärkt den Coach auch wieder für die Fälle, in denen Jugendliche mit Überindividuation reagieren.

Nun kann man sich als Fachmann/-frau natürlich fragen, warum reagiert Max, indem er sich mittels Konsum den Eltern entzieht. Er hätte doch andere Möglichkeiten, z. B. sich mit den Eltern zu streiten, sich mit ihnen anzulegen etc. Wir fragen aber in der systemischen Arbeit nur in Ausnahmefällen nach dem Warum, nach den Gründen und Ursachen. So fragen wir auch im Elterncoaching nur dann, wie und in welchem Kontext ein Verhalten entstanden ist, wenn sich spezifische Dynamiken oder Verhaltensweisen immer wieder erneut wiederholen und die bisherigen Lösungsansätze zu keiner Änderung führen.

Gerade in der Phase der Pubertät machen Jugendliche vielfältige Erfahrungen, die von ihnen subjektiv als sehr erfolgreich erlebt werden. Das wird dann „einfach“ wiederholt und wenn die Wiederholungen den Erfolg bestätigen, werden diese erfolgreichen Erlebnisse auch auf andere Kontexte übertragen und wenn sich auch dort der eine oder andere Erfolg (= Lösung)  einstellt, liegt es Nahe, an universelle Lösungsmuster zu glauben. Rauschmittel (und ebenso auch die Erfolge bei Online-Spielen) können bei einer spezifischen Biochemie in einer bestimmten Pubertätsphase eines bestimmten Jugendlichen ein hohes Erlebnispotential erzeugen. Das ist für sich gesehen schon erlebnisträchtig, aber viel mehr noch, wenn der Erfolg in einem sozialen Kontext dazu beiträgt, die eigene Autonomie (vermeindlich) sicherzustellen. Dann überlagern auch noch die lustvoll erlebten Rauschzustände die Beurteilungsfähigkeit der sozialen Wirkungen. Das eigene Erleben schiebt sich so in den Vordergrund, daß das Erleben anderer oder das Beurteilen einer gemeinsamen Beziehungsgestaltung in den Hintergrund tritt und unbedeutsam wird.