9.3 Elterliches Curling oder Lebenserfahrung ermöglichen

Noch in den 60er Jahren war Autorität innerhalb eines gesellschaftlichen Konsens hierarchisch angelegt. Ein Konsens den (scheinbar) alle wollten, einschließlich Schule, Politik, Medien etc. Es kam niemandem in den Sinn, dies zu hinterfragen.

Erst die 1968er brachten grundlegende gesellschaftliche Veränderungen, die auch die Erziehungswissenschaften auf den Prüfstand stellten und zu Veränderungen in den pädagogischen Leitbildern und Ansätzen führten: Die damalige Vision, wir schaffen eine freie Gesellschaft durch eine freie Erziehung, hat sich so nicht erfüllt, weil die Kinder nicht lernten, selbstbestimmt mit dieser Freiheit umzugehen. Freie Kindererziehung sollte Kindern Räume zur Verfügung stellen, um sich auszuprobieren, Wahlmöglichkeiten anbieten, um Autonomie zu erleben, Ermutigung geben, um zu unterstützen.

Entgegen aller Hoffnungen aber kamen dabei Kinder mit einem niedrigen Selbstwert heraus, weil man übersehen hatte, daß nur diejenigen Selbstwert entwickeln, die – wie eine Werbung das betont – es sich selbst wert sind. Das aber lernt man vor allem dann, wenn man mit Situationen konfrontiert wird, in denen es keine Wahlmöglichkeiten gibt, sondern durch die man einfach durch muß, die man selbst bewältigen muß: Wenn man schwierige (Lebens-) Situationen selbst bewältigt hat, kann man Stolz = Wert über sich selbst entwickeln – dabei entsteht Selbstwert.

Zudem ist das Gehirn ist eine „Problemlösemaschine“, die nach Erlebnissen und Erfahrungen verlangt. Der Mangel an sogenannten „Noterlebnissen“ und der Mangel an vielfältigen und komplexen Lebenserfahrungen führt zu einem Mangel an Selbstwert.

Curling Eltern

„In Dänemark nennen wir sie Curling-Eltern, weil sie wie beim Eisstockschießen alle Hindernisse vor ihrem Kind aus dem Weg räumen. Sie ersparen ihren Söhnen und Töchtern sogar den Anblick eigener Trauer, etwa beim Tod der Großeltern. Solche Kinder wissen nichts über andere Menschen und nichts über sich selbst. Sie wissen nicht, was es heißt, traurig oder frustriert zu sein, sie kennen deshalb kein Mitgefühl.“ (1)

Bis zum Beginn der Pubertät haben Etern ihren Kindern fast alles vermittelt, was es an Normen und Werten und über das soziale Leben zu wissen gibt. Die Kinder haben bis zu diesem Wendepunkt ihres Lebens auch hoffentlich reichhaltige Umwelt- und soziale Erfahrungen gemacht. Aber auch wenn dies nicht geschehen ist, ab dem Beginn der Pubertät ist die direkte elterliche Einflußnahme „gelaufen“. Eltern sollten und können dann keine Richtungen mehr weisen wie mittels Curling beim Eisstockschießen (2).

Curling bedeutet, Kindern Schwierigkeiten, bevor sie erlebt werden könnten, bereits aus dem Weg zu räumen oder zumindest vor möglichen Problemen eine warnende Stimme zu erheben.

Müssen sich Eltern in der vorpubertären Kinderzeit schon gut überlegen, welche Schwierigkeiten sie ihren Kindern aus dem Weg räumen oder ihnen zumuten, diese selbst zu bewältigen, kommt diese Entscheidung fast ausweglos mit einer gewissen Dramatik in der Pubertät auf Eltern in jedem Fall zu. Durch die Außenorientierung der Kinder sind Eltern gezwungen, ihren Jugendlichen Lebenserfahrungen zu überlassen. Leider finden viele Eltern dann nicht das rechte Maß in der Balance, vor Gefahren zu warnen oder ihren Kindern die Erfahrungen zu überlassen. Diese Balance zu finden, ist wirklich eine Herausforderung.

Eltern, die mit Suchtpräsenz konfrontiert sind

Kommen Eltern in die Beratung, weil sie mit der Suchtpräsenz ihres Jugendlichen konfrontiert sind, gewinnt der Aspekt des Curling eine ganz besondere Bedeutung. Wir haben es mit 2 Gruppen von Eltern zu tun. Die einen haben schon in der Kinderzeit ihres Jugendlichen gecurlt. Die andere Gruppe hat ihre Kindern zur Problembewältigung und Selbständigkeit erzogen.

Spätestens mit dem Auftauchen der Suchtpräsenz ist der Zeitpunkt gekommen, jegliches Curling einzustellen.

In der Regel nervt Curling Kinder und Jugendliche. Das Warnen vor (vermeindlichen) Gefahren (Es ist kalt draußen, willst Du Dir nicht mal die andere Jacke anziehen?!) vermittelt, daß man dem Jugendlichen nicht zutraut, etwas selbst beurteilen zu können und aus einer Erfahrung, eigene Schlüsse und Konsequenzen ziehen zu können. Wenn diese Warnungen vor (vermeindlichen) Gefahren keine einzelnen Situationen betreffen, sondern zum bestimmenden Beziehungsmuster werden, wird dies 1. Jugendliche demotivieren, weil ihnen nichts zugetraut und auch nicht zugemutet wird und nimmt ihnen 2. die Lebenserfahrungen, die sie später so dringend für ihr Erwachsenenleben benötigen.

Wenn nun Eltern vorherrschend ängstlich in Bezug auf ihr Kind eingestellt waren und Curling ein bestimmendes Beziehungsmuster zum Kind gewesen ist, werden sich diese Eltern bei dem Auftauchen von Suchtpräsenz fast panikartig verhalten. Diese Eltern haben wenig Erfahrung damit, wie sie es aushalten können, durch welchen Höhen und Tiefen ihr Kind da gerade geht und schon gegangen ist und dabei „überlebt“ hat. Auch haben diese Eltern wenig Erfahrung damit, daß ihr Kind das Problem schon selbst lösen wird!

Hier soll schon einmal angedeutet werden, welche Strategie wir im Elterncoaching verfolgen: Zeigt ein Jugendlicher Suchtpräsenz, sollte die Zeit des Hotel Mama beendet werden. Dem Jugendlichen werden keine Schwierigkeiten mehr aus dem Weg geräumt. Im Gegenteil, es werden ihm zusätzliche Probleme bereitet.

Die Eltern werden alle Gemeinschaftsaufgaben übernehmen. Der Jugendliche wird komplett davon befreit. Dafür betreten die Eltern das Zimmer des Jugendlichen nicht mehr. Dies ist sowohl Realität als auch die Metapher dafür, daß sich die Eltern komplett aus dem Leben des Jugenlichen rausziehen und raushalten. Sie lassen ihn schalten und walten. Dafür hat der Jugendliche für das eigene Leben komplett zu sorgen, angefangen bei selbständigen morgendlichen Aufstehen, um in Schule oder Ausbildung zu fahren, Wäsche und Zimmer versorgen und so weiter.

Die Erfahrung zeigt, daß es eine Phase von 3-5 Monaten braucht bis der Jugendliche realisiert, daß sich die Eltern nun wirklich anders verhalten und er dies künftig den Eltern auch abnimmt.

Diese 3- eher 5 Monate müssen die Eltern an Erfahrung ermöglichen, selbst wenn der Jugendliche die Schule schwänzt oder die Ausbildung gefährdet. Die Alternative wäre das Curling bis … Die Erfahrung zeigt, daß die Mehrzahl der Jugendlichen sehr schnell das eigene Leben in die Hand nimmt und den Eltern zeigt, das sie das sehr wohl alleine können. Aber sie werden in den kommenden Wochen und Monaten immer wieder (unbewußte) Provokationen in Szene setzen, um die Eltern zu testen, ob sie beim neuen Verhalten bleiben.

Der Zeitraum dient auch dem Test, um in Erfahrung zu bringen, ob der Jugendliche die Suchtpräsenz einstellt:

Merke: Es könnte ja sein, daß er nur deshalb mit Suchtpräsenz reagiert,
weil er bisher vom elterlichen Verhalten so genervt war,
daß er sich mittels Konsum einen Reizschutz (3) aufgebaut hat.


(1) Jesper Juul in DER SPIEGEL 11/2012

(2) https://de.wikipedia.org/wiki/Curling

(3) https://www.sucht-und-psychoanalyse.de/pages/artikel-und-vortraege-w.d.-rost/05-sucht-psychose-und-kreativitaet-zuerst-publiziert-in-s.-mentzos-a.-muench-psychose-und-sucht.-vandenhoeck-und-ruprecht-goettingen-2002