1.4 Die Sendepause

Nach den ersten Erfahrungen in 2002, daß sich konsumierende Jugendliche in der Regel einer Familienberatung verweigern, vereinbarte ich frühzeitig mit einigen Eltern, daß wir es vorübergehend aufgaben, uns um die Beteiligung ihrer Jugendlichen zu bemühen und den Fokus von einer Familienberatung auf eine Elternberatung verschieben könnten. Die Eltern zeigten sich sehr interessiert, hatten sie doch selbst längst bemerkt, daß sie keinen Einfluß mehr geltend machen konnten. Gleichwohl hatten sie aber das Bedürfnis, etwas gegen den Konsum unternehmen zu wollen.

Der aus meiner Sicht bedeutsamste Veränderungsaspekt am Elternverhalten schien mir die Art und Weise wie und was diese Eltern mit ihren Jugendlichen kommunizierten. Die Qualität litt immens unter der Quantität: diese Eltern redeten und redeten und redeten, aber ohne Wirkung und Erfolg. Sie zerredeten förmlich den Inhalt, den sie eigentlich ihrem Max rüber bringen wollten. Sie brachten sich selbst um die Wirkung ihrer Worte und Botschaften. Ausnahmslos allen Eltern war dies einsichtig. Sie fanden sich selbst oft genervt vom eigenen Reden.

Wir erarbeiteten also bestimmte Inhalte, die sie ihrem Jugendlichen kommunizieren wollten. Wir beschäftigten uns mit präzisen Formulierungen und Botschaften, feilten an Körperausdruck und Körpersprache, machten Rollenspiele und trainierten Verhalten ein. Und die Eltern zeigten sich hoch motiviert und zuversichtlich, nun mit mehr Rückendeckung und gut vorbereitet, anders mit ihren Jugendlichen zu Hause umzugehen und zu kommunizieren. Es gab auch die ersten Erfolge, weil sich die Eltern, wie man so sagt, am Riemen rissen. Sie beschränkten sich im Kontakt zu ihren Jugendlichen nur auf das Wesentliche, sparten sich Kleinigkeiten, wirkten verbal und nonverbal kongruenter und damit auch authentischer.

Aber wir hatten die Rechnung nicht so ganz ohne die Jugendlichen gemacht: diese bemerkten die Veränderung bei ihren Eltern und reagierten. Und sie reagierten mit Provokationen vielfältiger Art, wie das Pubertierende halt so machen. Das strapazierte die neugewonnene Selbstdisziplin der Eltern bis an die Grenzen des Erträglichen. Wir konnten uns gar nicht mit so vielfältigen unterschiedlichen Situationen beschäftigen und die Eltern vorbereiten, wie die Jugendlichen ihr ganzes Provokationsrerpertoire ausspielten. Der Spieß drehte sich um: während die Eltern zunächst in der Position der neu Agierenden waren, konfronierten die Jugendlichen sie mit reaktiven Provokationen, worauf die Eltern wiederum sich genötigt sahen, aus einer neuen Defensive heraus zu reagieren. Es gab vielfältige Neuauflagen jenes „alten“ Elternverhaltens, von dem sie gedacht und sich gewünscht hatten, es abzulegen und durch das neue zu ersetzen. Statt cool, wohl überlegt und zurückhaltend zu reagieren, ließen sie sich immer wieder „hinreißen“ zu unüberlegten und sehr emotionalen Äußerungen, die sie oft hinterher oder schon im Augenblick des Reagierens bereuten.

So saß ich einmal wieder mit der alleinerziehenden Mutter von Tim (15 Jahre, seit ca. 1 Jahr Cannabiskonsument) im Gespräch. Sie war „eigentlich“ auf einem guten Veränderungweg und hatte sich mit ihrem Verhalten, wie sie es selbst nannte, „ziemlich gut im Griff“. Wir hatten gemeinsam ihre Kommunikation gegenübr Tim „ausgedünnt“. Wir hatten überlegt, was sie gegenüber Tim überhaupt noch sagen wollte. Wenn sie sich unsicher fühlte, wollte sie eine Reaktion oder Stellungnahme gegenüber Tim bis zu unserem nächsten Beratungsgespräch vertagen. Tim seinerseits konfrontierte sie allerdings mit einer Steigerung zunehmender Provokationen, indem er immer häufiger bekifft nach Hause kam und sie dann aggressiv beschimpfte, sich dann „fünf“ Minuten später entschuldigte oder wie ein Häufchen Elend völlig zusammenbrach und sich jammernd an seine Mutter klammerte, um dann wieder morgens nicht aufzustehen, um in die Schule zu gehen, nächtelang wegblieb und dergleichen mehr. Insbesondere die Konfrontation mit Tims emotionalen Wechselbädern hatte seine Mutter große Mühe. Zwei, dreimal hielt sie dem Stand und ließ sich nicht in drohende Eskalationen hineinziehen, aber beim nächsten Mal stieg sie dann doch wieder ebenso emotional wie Tim darauf ein, um sich sofort zu ärgern und mit Schuldgefühlen und Selbstvorwürfen in die nächste Beratungsstunde zu kommen.

In meiner Gegenübertragungsreaktion reagierte ich symmetrisch – ich fühlte mich genervt vom undisziplinierten Mutterverhalten genauso wie sie von Tims respektlosem Verhalten genervt war. Die gemeinsamen Versuche über rationale Einsicht und das Training mit Rollenspielen zeigten zunächst Aussicht auf Erfolg, scheiterten aber doch immer wieder in häuslichen Situationen, indem sich Tims Mutter dann doch in Eskalationen hineinziehen ließ. Bis ich eines Tages in einer Beratungsstunde meiner Gegenübertragung erlag, ebenso die Geduld verlor und mir gegenüber Tims Mutter die impulshafte Bemerkung rausrutschte: „Dann halten sie jetzt ab sofort zu Hause endlich mal die Klappe!“
Zum Glück war die Beziehung zu Tims Mutter so tragfähig und wertschätzend, daß sie nicht mit persönlicher Kränkung, sondern eher mit einem ungläubigen Erstaunen reagierte. „Aber das versuche ich ja doch die ganze Zeit schon.“

Schon länger hatte ich mir beim Thema „versuchen Sie mal“ eine Impact Technik „zurechtgelegt“. Einer meiner Söhne hatte im Kindergarten einen faustgroßen Stein sehr schön bemalt und mit glänzendem Lack überzogen. Das ist seither mein „Versuchsstein“. Also sagte ich zu Tims Mutter: „OK, dann versuchen Sie mal bitte, diesen Stein aufzuheben. Aber bitte nur versuchen!“ Ihre Hand näherte sich dem Stein und in dem Moment als ihre Hand den Stein berührte und ihn umschloß und sie ihn heben wollte, sagte ich: „Stop, nur versuchen, nicht heben!“ Sie zeigte sich irritiert; „Wie, nur versuchen, nicht heben. Aber dann geht es doch nicht weiter!“ Meine Antwort: „Eben!“

Es ging also darum, daß sie keine Versuche mehr machte, ihr Verhalten graduell zu verändern, quantitativ weniger mit Tim zu kommunizieren und qualitativ weniger emotional  mit ihm umzugehen bzw. auf ihn zu reagieren, denn das hielt sie offenbar nicht durch. Sondern es sollte nun in einem neuen Experiment darum gehen, mit Tim überhaupt nicht mehr zu kommunizieren. (siehe unten Watzlawick) Eine Woche lang kein Wort mehr und keine Mimik und Gestik als Reaktion.

Um es vorwegzunehmen: Diese Schweigephase war ein „durchschlagender“ Erfolg. Allerdings wurden aus einer Woche zwei. Tims Mutter hatte nach 14 Tagen Schweigen eine stabile Hemmung aufgebaut hatte, impulshaft zu reagieren. Sie konnte auch in der Folge so diszipliniert bleiben, daß Tim machen konnte was er wollte, seine Mutter reagierte und sprach nur noch zu ihm, wenn es wohl überlegt war und sie cool bleiben konnte.

Wir hatten etwas Entscheidendes entdeckt:

Eine Beispielsituation, die Sie kennen dürften: Sie haben vermutlich einmal den Autoführerschein gemacht und wenn nicht, so dürften Sie sich doch vorstellen können, wie man das erste Mal im Auto nicht als Beifahrer, sondern als Fahrer hinter dem Lenkrad saß. Tausend Dinge und Eindrücke „stömten“ auf einen ein – die Erklärungen des Fahrlehrers, die Dinge im Auto, die Welt außerhalb des Autos und und und. Man fühlte sich reichlich überfordert und als man das erste Mal dann ein wenig Gas geben sollte, ging es vermutlich ruckelig und zunächst im Schneckentempo voran. Worauf will ich hinaus? Bereits in der zweiten Fahrstunde war man in der Lage, schon eine ganze Reihe an Wahrnehmungen ausblenden zu können und sich auf die wenigen Aspekte zu konzentrieren, die notwenig waren, um gut und sicher durch den Straßenverkehr zu kommen. Und wieviele Fahrstunden haben Sie gebraucht, unnütze Wahrnehmung ausblenden, also zu hemmen und sich ausschließlich auf das Autofahren zu konzentrieren? Ich schätze im Schnitt werden es 5-8 mal eine ¾ Stunde gewesen sein. Mehr Zeit war für das Lernen, das Erwerben solch einer stabilen Hemmung nicht notwendig! Hilfreich dabei war allerdings auch der Rahmen des Straßenverkehrs, denn ein „Ausrutscher“ konnte hier üble Folgen nach sich ziehen, also besser ganz klar konzentrieren.

Übertragen wir das jetzt einmal auf Tims Mutter und unser Experiment. Es fehlte Tims Mutter in ihrem Elternverhalten gegenüber ihrem Sohn der eben erwähnte Rahmen, in dem ein „Ausrutscher“, also das Verlassen einer Regel, sofort und unmittelbar eine „üble“ Folge haben konnte. Das scheint mir der entscheidende Unterschied zur Fahrstundensituation zu sein, ganz bestimmte Wahrnehmungen zu hemmen und auszublenden und vorschriftsmäßig nur ganz bestimmte Verhaltensweisen und Handlungen zu kommunizieren und sich ausnahmslos an betimmte Regeln zu halten.

Den Begriff der „Hemmung“ benutzten wir bisher wohl eher negativ konnotiert: ich fühle mich gehemmt, jemand anzusprechen; ich habe Hemmungen, vor vielen Menschen eine Rede zu halten etc. Dabei hat der Aspekt der „Hemmung“ durchaus auch konstruktive Seiten. Als Kinder lernen wir schon, unsere Wahrnehmung zu hemmen, um uns auch mal auf ein Ding konzentrieren zu können. Gehen Sie in Gedanken doch einmal Ihr Wohnzimmer durch. Vermutlich gibt es dort ziemlich viel zu sehen und doch nehmen Sie normalerweise das alles nicht bewußt war, jedenfalls solange sich alles an seinem gewohnten Platz befindet. Üblicherweise würden Ihnen nur die Ausnahmen von der Regel bewußt auffallen: jemand hat mit der Tagezeitung den Fernseher abgedeckt – was soll das denn? Ein Strumpf liegt auf dem Boden?! Ein Glas ist umgefallen. Die Blumen lassen die Köpfe hängen. Alles andere, normale, blendet unsere Wahrnehmung aus. (siehe unten Gerald Hüther)

Wir haben es mit zwei Teilaspekten zu tun: es geht um die Hemmung bestimmter Wahrnehmung, und es geht darum, bestimmte Verhaltensweisen und Handlungen zu hemmen. Hemmung ist hier also der hilfreiche Gegenspieler zum Aspekt des Orientierungslosen, des Impulshaften, des Spontanen. (siehe unten Klaus Grawe)

Zeige ich im Straßenverkehr spontanes Verhalten, das von den Regeln abweicht, kann das zufälligerweise gut gehen. Das Risiko, einen Unfall zu produzieren, ist aber immanent. Als Elternteil sollte ich mich in Bezug auf mein Verhalten ebenso an bestimmte Regeln halten. Weiche ich schon mal spontan davon ab, wird das zumeist und normalerweise  keine großen Folgen nach sich ziehen.
Will ich aber bei meinem Kind bzw. meinem Jugendlichen etwas ganz Bestimmtes bewirken, werde ich die Wahrscheinlichkeit nur dann erhöhen, wenn ich mich wie im Straßenvekehr ausnahmslos an festgelegte Regeln und Verhaltensweisen halte. Eltern, wie Tims Mutter, fühlen sich in einer existentiellen Notsituation, weil sie befürchten müssen, daß ihr Jugendlicher auf einen gesundheitsgefährdenden Zustand zusteuert und nicht viel Zeit bleibt, um möglichst rasch und wirksam interventieren zu können.

Ich schlug weiteren Eltern das gleiche Experiment mit dergleichen Vorgehensweise vor, die ich dann schließlich „Die Sendepause“ nannte: 14 Tage ausnahmsloses sprachliches Schweigen. Über das Ankündigen der Sendepause, ihren Rahmenbedingungen, Ausnahmen etc. mehr im Beitrag https://systemische-fortbildung.de/ankuendigung-der-sendepause/

Die Ergebnisse waren eindrucksvoll: alle Eltern konnten nach dieser 14tägigen Sendepause diszipliniert mit ihren Jugendlichen kommunizieren, mochten sich diese auch noch so provokant verhalten. Diese Eltern konnten emotional cool bleiben und wohl überlegt nur das Nötigste sagen. Sie fielen niemals mehr aus der Rolle, d. h. sie bewegten sich selbst gegenüber und dem Jugendlichen gegenüber immer in dem von uns in der Beratung erarbeiteten zielorientierten Rollen- und Verhaltensschema.

Offenbar hatte das elterliche Gehirn in diesen 14 Tagen eine stabile Sprechhemmung aufgebaut. Immer trat eine Hemmung ein, bevor gegenüber dem Jugendlichen in einer Situation das erste Wort aus dem Mund kam. Ich machte die Sendepause zur diagnostischen Einstiegsphase in das Elterncoaching. Jedes Elterncoaching beginnt mit der 14tägigen Sendepause der Eltern, damit sich die Eltern selbst unter Kontrolle haben und jene Interventionen, die wir uns von Sitzung zu Sitzung im Coaching erarbeiten, so eins-zu-eins in der familiären Kommunikation auch umsetzen zu können.


Gerald Hüther, Neues vom Zappelphilipp. ADS verstehen, vorbeugen und behandeln. Seite 50 ff.

Klaus Grawe. Neuropsychotherapie. S. 58 ff Neuronal Aktivität spielt sich in Muster von Aktivierung und Hemmung ab

Seit Paul Watzlawick et. al. Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien. Kapitel 2.2 wissen wir, daß man nicht nicht kommunizieren kann. Auch die Verweigerung einer Kommunikation kommuniziert etwas.