2.3.2.2 Die Alternative zu Co-Abhängigkeit

Surfen Sie besser nicht im Internet nach dem Begriff der Co-Abhängigkeit (Achtung Negation). Das frustriert nur. Diese Konstruktion der „Co-Abhängigkeit“ verwende ich schon lange nicht mehr, weil sie Angehörige, die alles tun und unternehmen, um die Beziehung zu demjenigen, den sie doch lieben, retten möchten: Sie möchten die Beziehung retten! Ich halte das für ein liebevolles und legitimes Anliegen. Er oder sie konsumiert, aber leider haben die Angehörigen bei all ihren bisherigen Bemühungen noch keine wirksame Intervention gefunden, um in der Beziehung zum Konsumierenden etwas zu bewegen.

Die Konstruktion und Zuschreibung der „Co-Abhängigkeit“ haben Laien oder die Fachleute erfunden und ich denke, sie kamen mit den betroffenen Angehörigen nicht weiter, konnten ihnen nichts Wirksames zur Verfügung stellen, das die Beziehung zum Konsumenten nachhaltig verändert hätte, also haben die hilflosen Helfer die Pathologisierung der Angehörigen erfunden: die Ehefrau (zudem sind zumeist die Frauen gemeint) sei vom trinkenden Ehemann genauso krankhaft abhängig, wie dieser vom Alkohol.

Diese Fachleute empfehlen Angehörigen, den Konsumenten loszulassen, ihn sich selbst zu überlassen, damit er oder sie den „Druck“ und die Konsequenzen durch die Umwelt erfährt. Und sie, die Fachleute, wundern sich dann, daß die Angehörigen Widerstände zeigen: Aber ich kann ihn doch als Mutter/Vater/Ehefrau/Ehemann nicht ganz alleine und dem Rauschmittel überlassen. Dann wird doch alles noch viel schlimmer.

Darauf erwidern dann die Selbsthilfegruppen und die Fachleute: „Erst, wenn der Suchtkranke ganz unten (in der Gosse) liegt und genug Druck spürt, dann kommt er doch zur Besinnung und ist motiviert.“

Das ist das für mich das veraltete Konzept. Ich verstehe ja, daß es logisch klingt und sicher auch millionenfach gewirkt hat. Wenn es aber nicht wirkt, dann läge es an den Angehörigen und ihrer Co-Abhängigkeit. Dabei zeigen sich die Fachleute genauso hilflos wie die Angehörigen – nur daß sie, die Fachleute nicht mit dem Konsumenten zusammen leben und das Zusammenleben nicht aufkündigen müssen.

Dabei läßt sich das Konzept der bezogenen Individuation nicht nur auf Eltern-Kind-Beziehungen anwenden, sondern auch auf Paarbeziehungen.

Aus der Sicht dieses Konzeptes wäre die Forderung „Loslassen“ (lernen Sie als Ehefrau, sich um sich selbst zu kümmern und überlassen Sie Ihren Mann dem Alkohol, damit er spürt, was er da anrichtet) nur die halbe „Wahrheit“ nämlich der Individuationsaspekt. Wird diesem nicht der zweite Aspekt der Bezogenheit an die Seite gestellt, gehen wir das Risiko der sogenannten Über-Individuation ein, dem der Beziehungsabbruch innewohnt – bei selbstzerstörerischem Suchtverlauf könnte das der Tod sein – und wen mag es wundern, daß den die Angehörigen fürchten.

Wenn wir nun neue Aspekte der Bezogenheit gleichsam ergänzend (neuen) Aspekten der Individuation, an die Seite stellen, werden Angehörige wissen und auch erfahren, daß sie doch etwas tun können, als nur „Loszulassen“ indem sie den Konsumenten und den Folgen sich selbst zu überlassen.

Auch hier können wir im Sinne der Bezogenheit mit dem Konzept der „Präsenz“ arbeiten.

Statt in der Selbsthilfegruppe oder der Suchtberatung mit dem Angehörigen darüber zu „ringen“, daß er oder sie den Konsumenten endlich mal loslässt, sich selbst überläßt und dann mal sich selbst zuwendet – wer hat schon die souveräne Freiheit bei all dem Leid zu Hause jetzt an eigene neu gewonnene Freiheiten zu denken – ist es doch sicher einfacher – und das ist meine Erfahrung in der Arbeit mit Angehörigen – nicht nur nichts mehr zu tun, sondern etwas anderes zu tun und zwar mit der gleicher Energie (wenn nicht noch mit mehr Energie und Aufwand als bisher).
Es gibt etwas anderes zu tun, um eine ganz neue Bezogenheit herzustellen, wobei es eigentlich zwei neue Bezogenheiten sind:

  • wie kann ich meine eigene innere neue Bezogenheit zum Konsumenten herstellen, überprüfen, erneuern, entdecken, entwickeln?
  • wie kann ich meine Bezogenheit dem Konsumenten gegenüber völlig neu demonstrieren, zeigen und ausdrücken?

Die Lösung liegt im vergleichbaren Vorgehen, das Eltern gegenüber ihren konsumierenden Jugendlichen mit der Entwicklung elterlicher Präsenz bewirken.

Auch PartnerInnen und erwachsene Kinder können sich bezogen auf konsumierende Partner oder Eltern eine neue Präsenz erarbeiten, die sie in die Waagschale werfen. Also nicht Loslassen und Fallenlassen (Individuationsdynamik), sondern, da Reden nichts bewirkt, wortlose Präsenz demonstrieren und jegliche verbale Kommunikation auf das momentan Bedeutsame reduzieren: Ich möchte, daß Du konsumfrei wirst!