2.3.2.1 Co-Abhängigkeit – Grundzüge und Kritik

Bis zum Aufkommen der systemischen Beratung und Therapie in den 80er Jahren setzte sich die Suchthilfe, ebenfalls wie anderen Therapiebereiche, nur sehr marginal mit Angehörigen auseinander, Kontakte zu diesen wurden sogar als störend empfunden (vgl. Gerber 2010: 18).
Langsam entwickelte sich schließlich ein Paradigmenwechsel vom isolierten Individuum hin zur systemischen Sichtweise, bei dem die Einbeziehung von Angehörigen zu einem zentralen Behandlungsthema wurde (vgl. Rennert 2012: 13). Im Folgenden wurde hierzu das Modell der „Co-Abhängigkeit“ verwendet, das Angehörige als „Beteiligte in einem Prozess des Aufschaukelns“ sieht (Gerber 2010: 18) und überwiegend der Frage nachgegangen, wie Nahestehende dazu beitragen, Sucht aufrechtzuhalten (vgl. Rennert 2005: 46).

Während in den USA „Co-Abhängigkeit“ als eigene Erkrankung diagnostiziert wird, überwiegen in Deutschland sehr differenzierende Ansätze mit einer Fülle an Definitionsversuchen und Bedeutungsverschiebungen (vgl. Hörauf 2015: 55). Eine wissenschaftliche Rezension fand hingegen kaum statt, sodass nur wenige Untersuchungen vorliegen (vgl. Rennert 2012: 28).

Nach Fengler (2002: 200) umfasst das Konstrukt grundsätzlich „alle Haltungen, Verhaltensweisen und Status von Personen und Gruppen, die in einemdirekten emotionalen Kontakt durch ihr Tun oder Unterlassen dazu beitragen, dass der Süchtige oder suchtgefährdete Mensch süchtig oder suchtgefährdet bleiben kann.“ Rennert (2012: 230 f.) sieht insbesondere zunehmende Einschränkungen in der Wahrnehmung von Verhaltensalternativen bis hin zum Gefühl existenzieller Bedrohung durch jegliche Veränderung als kennzeichnend, die mit den gleichen Begleiterscheinungen einhergehen können wie bei einer Entwicklung einer Suchtmittelabhängigkeit.
Schaef (1986: 34 ff) beschreibt Co-Abhängigkeit als eine Sekundärerkrankung des Suchtprozesses und betont die Gesellschaftsbedingtheit dieses Konstruktes. Die Hauptmerkmale sieht sie in der übertriebenen Fürsorge, Kontrollversuchen, in Unehrlichkeit, und Leichtgläubigkeit, dem Verlust der eigenen inneren Moral, Rechthaberei und körperlichen Erkrankungen.

Gemeinsam ist allen Definitionen, dass Angehörige durch Enttäuschungen, Verunsicherung und Angst als Reaktion auf das unberechenbare Verhalten der Abhängigen, ein überfürsorgliches, loyales und kontrollierendes Verhalten entwickeln, welches wiederum ermöglicht, überhaupt und weiterhin unverantwortlich zu handeln (vgl. Rennert 2005: 48).

Mittlerweile mehren sich allerdings die Stimmen, die das Konstrukt als überholt, mit Risiken behaftet und ethisch fragwürdig sehen, weshalb die Ausrichtung der Angehörigenarbeit in den vergangenen Jahren zeitgemäßeren Ansätzen Platz machte (vgl. Laging 2018: 145 ff.). Insbesondere die einseitig negative und verallgemeinernde Verwendung des Begriffs, die den Angehörigen eine Mitschuld an der Entwicklung der Erkrankung als „KomplizInnen“ oder profitierende „TäterInnen “ zuschreibt und gleichzeitig die Konsequenzen für die Angehörigen vernachlässigt, werden kritisiert (vgl. Rennert 2005: 46; Rennert 2012: 29).

Des Weiteren wertet das Konstrukt denWunsch der Angehörigen nach einer Beeinflussung der Suchterkrankung selbst als co-abhängige Verhaltensweise (vgl. Smith/ Meyers 2013: 12). Angehörige werden so in ihrer Absicht, einem geliebten Menschen helfen zu wollen, nicht ernst genommen und rücken stattdessen selbst als „Erkrankte“ ins Zentrumder Aufmerksamkeit (vgl. Gerber 2010: 20).

Uhl und Puhm (2007: 16) sehen das Konstrukt allein deshalb als überflüssig an, da Bezugspersonen immer Handlungen setzen, die günstig, ungünstig oder neutral auf das Suchtverhalten wirken. Da es wahrscheinlich ist, dass auch ungünstig zu bewertende Handlungen vorkommen, wird jede Bezugsperson auf dies Weise automatisch zum Co-abhängigen.

Klein und Bischof (2013: 67) zufolge hat sich das Co-Abhängigkeitskonzept sogar in seiner gesamten Geschichte im Hinblick auf adäquate, wirksame Hilfen für PartnerInnen und andere Angehörige von Suchterkrankten als kontraproduktiv und forschungshemmend erwiesen.

Rennert hingegen (2005: 45 f) sieht das Konzept dennoch als Erklärungsmodell für Verhalten und Erleben der Betroffenen und didaktisches Werkzeug, um ihnen ihren Anteil an der Entwicklung der Situation verständlich zu machen, als sinnvoll an. Auch in der Fachwelt gilt die dahinter stehende Theorie mit heuristischem Wert als anerkannt (vgl. Wendt 2018: 269).

Uhl und Puhm (2007: 13) schlagen vor, umMissverständnisse und stigmatisierenden Zuschreibungen vorzubeugen, stattdessen von „suchtförderndem Verhalten“ zu sprechen. Sie fordern insgesamt eine differenzierte Sichtweise, die die komplexe Situation der Angehörigen hinreichend berücksichtigt, ohne dabei das Ziel, den Suchtmittelabhängigen bei der Überwindung der Sucht zu helfen, aus den Augen zu verlieren (vgl. ebd.: 18)


Quelle: mit Erlaubnis der Autorin zitieren wir hier einen Abschnitt aus einer Masterarbeit

Nadine Stachel. Die Umsetzung des Community Reinforcement Ansatz basierten Familientrainings (CRAFT) in der ambulanten Suchthilfe – eine qualitative Studie aus Sicht von SuchtberaterInnen. Masterarbeit Landshut 2019. Seite 10 ff. Abschnitt 2.4 Exkurs Co- Abhängigkeit- Grundzüge und Kritik

von der Autorin zitierte Literatur:

Hörauf, W. (2015): Alkohol in der Familie. Im Spannungsfeld von Co-Abhängigkeit und Resilienz. München: AVMpress.

Rennert, M. (2005): Co-Abhängigkeit. In: Thomasius, R. und Küstner U. (Hg.): Familie und Sucht. Grundlagen, Therapiepraxis, Prävention. Stuttgart: Schattauer, S. 45–51.

Rennert, M. (2012): Co-Abhängigkeit. Was Sucht für die Familie bedeutet. 3. Auflage. Freiburg im Breisgau: Lambertus.

Uhl, A.; Puhm, A. (2007): Co-Abhängigkeit – ein hilfreiches Konzept? In: Wiener Zeitschrift für Suchtforschung 30 (2/3), S. 13–20.

Wilson Schaef, A. (1986): Co-Abhängigkeit. Die Sucht hinter der Sucht. München