9. Bis zum Beginn der Pubertät ist „alles“ getan.

Die Überschrift übertreibt, um das Folgende deutlich zu machen:

Bis zum Beginn der Pubertät haben wir unseren Kindern alles vermittelt, was zu Hause und draußen in der Welt gut und richtig, aber auch schlecht und falsch ist. Wenn wir diese Grundfesten menschlichen Zusammenlebens unseren Kindern bis zum Beginn der Pubertät nicht vermittelt haben, gibt es nur noch wenig Chancen, das zu korrigieren, weil sich zu dieser Zeit die Orientierung der Kinder vom Elternhaus weg richtet auf die Welt außerhalb der häuslichen 4 Wände.

Jetzt haben oft recht plötzlich die Eltern nichts mehr (wenig) zu sagen, weil andere Stimmen, z. B. die der Peergroup, an Bedeutung gewinnen.

Eltern, die bis zum Beginn der Pubertät, ihre Kindern als sehr eigenständige Menschen betrachtet haben und sie zu Selbständigkeit und Individualität „erzogen“ haben, gelingt der Übergang zur Pubertät eher einfach.

Eltern, die jedoch ihren Kindern weniger Raum ließen, sich zu entwickel, zu entfalten und die eigenen Bedürfnisse kennenzulernen, die stattdessen ihre Kinder behüten wollten, ihren Kindern wenig zumuteten und zutrauten, werden sich mit Beginn der Pubertät sehr umstellen müssen, weil sich diese jugendlichen Kinder sehr viel deutlicher abgrenzen und sich der Einflußnahme der Eltern versuchen zu entziehen.

Dies kann auf zweierlei Weise geschehen. Es gibt viele Spielarten dazwischen, aber machen wir es deutlich:

Die eine Gruppe jener Jugendlichen, die gegängelt, behütet und bevormundet wurde, rebelliert offen und legt sich mit den Eltern an. Diese Jugendlichen opponieren und gehen offensiv in den Konflikt und die Auseinandersetzung mit den Eltern.

Die zweite Gruppe lehnt sich gegen Bevormundung nicht offen auf, sondern geht den Weg des vermeindlich geringeren Widerstandes. Diese Jugendlichen tricksen herum, erzählen Geschichten, verharmlosen, bagatellisieren und entziehen sich letztlich ihren Eltern, was die Eltern zumeist noch mehr auf den Plan ruft. Worauf sich die Jugendlichen noch weiter entziehen. Und so fort.

Ich habe noch keine jugendlichen Konsumenten erlebt, die der ersten Gruppe angehört hätten. Hingegen ähneln jene Konsumenten, die wir in der Suchthilfe kennenlernen, der zweiten Gruppe umso eher. Das ist ein subjektiver Eindruck aus über 30 Jahren Erfahrung in der Suchthilfe und wird durch viele KollegInnen bestätigt, ist meines Wissens aber noch nie untersucht worden.

Ich möchte hier keine Rückschlüsse im Hinblick auf protektive Faktoren schließen, zumal das von anderen Autoren vielfältig erörtert und dargestellt worden ist. Aber wir kommen mit dem Blick auf zukünftiges Eintreten für Konsumfreiheit nicht umhin, zu fragen, welche basale elterliche Haltung den Jugendlichen auch Halt vermittelt, soweit dies in eingeschränktem Maße in der Pubertät noch möglich ist:

„Die Dimension des elterlichen Zutrauens in das Kind gilt dabei als eine wichtige Bedingung einer gelingenden Lebensbewältigung.“ (1)

„Die Skala Elterliches Zutrauen in das Kind reflektiert offenbar die wichtigste Dimension und Bedingung für eine gute Ausrüstung und Motivation, das Leben in die Hand zu nehmen und sich zutrauen, die Schwierigkeiten zu meistern. […] Elterliches Zutrauen begünstigt jene Persönlichkeitsressourcen, die gute Voraussetzungen für eine gelingen­de Lebensbewältigung bieten.“ (2)

„Viele Skalen und Variablen im Bereich Zukunftssicht, klare Lebensplanung, Autonomie/Kreativität/Konfliktfähigkeit, Menschlichkeit/Toleranz, Selbstmanagement hängen positiv mit dieser Dimension zusammen. Elterliches Zutrauen begünstigt jene Persönlichkeitsressourcen, die gute Voraussetzungen für eine gelingende Lebensbewältigung bieten.“ (3)
Hingegen wird elterliches Mißtrauen das Kind eher entmutigen und ihm vermitteln, es könne sich selbst nichts zutrauen. Es wird sich dann auch nichts bzw. wenig trauen. Darin steckt aber auch das Risiko der selbsterfüllenden Prophezeiung: Mißtrauen unterstellt dem Kind auch, es könne dieses oder jenes falsch machen oder Unrechtes tun.
Jetzt höre ich umgehend die warnenden Hilferufe der betroffenen Eltern: Aber wir können unsere Kinder doch nicht in ihr Unglück laufen lassen. Wir können doch nicht zusehen, wie sie sich kaputt machen. Wir können doch nicht … HALT. STOP. Langsam.
1. Halten wir zunächst fest: Die Kinder brauchen keine Warnrufe (Mißtrauen) der Eltern, sondern brauchen Zutrauen und Zuversicht, daß sie sich schon entwickeln werden. Muten wir den Kindern Mißerfolge zu, statt sie davor bewahren zu wollen. Umwege im Leben erhöhen bekanntlich die Ortskenntnis. Ich meine hier LEBENSERFAHRUNG. Die bekommt man nicht erzählt – die muß man selbst machen. Nur wenn man selbst (ohne elterliches Eingreifen) Schwierigkeiten bewältigt hat, kann man so etwas wie Stolz und Selbstwert erfahren und entwickeln und darüber lernen, wer man eigentlich selbst ist und was man mag, kann und vermag!

Der Job der Eltern besteht im Kern darin, „die positive Entwicklung wie selbstverständlich und ohne den leisesten Zweifel“ zu erwarten. (4)

2. Der elterliche Job besteht aber nicht darin, zuzusehen, daß sich Kinder und Jugendliche ernstlich gefährden. Wann eingreifen und wann nicht? Eine wirklich existentielle Frage, die auch ich nicht mit letzter Konsequenz beantworten kann.
Viele Eltern, um die es hier geht, greifen jedoch viel zu zu früh ein! Sie ziehen noch nicht einmal in Betracht, daß es die Möglichkeit des Abwartens gäbe.
Sollten Eltern mit ihrem Jugendlichen seit längerem die Erfahrung gemacht haben, daß die elterlichen Hinweise ignoriert und mißachtet werden, wird sich weiteres Reden kontraproduktiv auswirken und möglicherweise zu Trotzverhalten führen – jetzt mache ich erst Recht, das was ich will! Dann befinden sich Eltern in der Zwickmühle, etwas tun zu müssen, aber keine Wirkung zu erzielen. Hier mein Vorschlag zum Vorgehen:
Es wird nichts anderes übrig bleiben, als zu warten, ob und ab wann sich Kinder / Jugendliche in eine Situation manövriert haben, in der eine gesundheitliche Beeinträchtigung schon begonnen hat! Früheres Eingreifen hat meist keinen Erfolg. Das muß man leider zur Kenntnis nehmen. Der Erfolg des Eingreifens wird aber dann eher wahrscheinlich, wenn negative Folgen bereits eingetreten sind. Sind diese allerdings zu banal, haben wir kein Argument. Sind die Konsumfolgen zu gravierend, könnte der Eindruck entstehen, es lohne sich nicht mehr, etwas zu unternehmen. Der elterliche Job besteht also darin, die Notbremse zu ziehen, um wirklich und ernstliche gesundheitliche Gefährdung zu vermeiden. Meiner Erfahrung nach wird dies dann (im Stadium 6 – 8) von den Jugendlichen akzeptiert.
Halten wir als Fazit fest:
Kinder lernen bis zur Pubertät viel von den Eltern. Die Eltern sind das Grundmodell für die Welt da draußen. Bis zum Beginn der Pubertät ist fast alles gesagt, getan und vermittelt.
Ab dem Beginn der Pubertät treten die Eltern zunehmend in den Hintergrund und die Welt da draußen in den Vordergrund.
Die Eltern sollen zuversichtlich und im Handeln absolut zurückhaltend zusehen, was die Jugendlichen daraus machen.
Eltern können „nur“ einen Rahmen abstecken, aber bitte nur mit einigen wenigen existentiell notwendigen Parametern.
Eltern greifen aktiv nur dann in das Leben der Jugendlichen ein, wenn eine Gefährdung schon begonnen hat – Stufe 3-4.

(1) http://www.grin.com/de/e-book/125179/die-13-shell-jugendstudie-mit-dem-schwerpunkt-religion

(2) Deutsche Shell (Hrsg.) (2000), S. 14.

(3) http://www.ekir.de/www/downloads/Jugend_Muenchmeier_Vortrag.pdf

(4) https://de.wikipedia.org/wiki/Jean_Liedloff