8.1 Bindung und Autonomie

Wir sollten im Elterncoaching über Grundkenntnisse der Bindungstheorie verfügen. Auch wenn wir die meisten der Jugendlichen nicht selbst kennenlernen, lassen sich mit Kenntnissen der Bindungstheorie (1) doch treffsichere Hypothesen darüber entwickeln, über welches Arbeitsmodell (2) ein Max verfügen mag, z. B. wie sich das Verhältnis von Bindung und Exploration (3) in der Entwicklungsgeschichte entwickelt hat.  Das wird im Einzelfall die Wahl der Interventionen bestimmen. Selbstredend können Eltern einem bindungssicheren Max andere Interventionen und Bziehungsangebote zumuten, als einem bindungstraumatisierten Max. Je nach Beratungsdienst wird man eine unterschiedliche Anzahl z. B. von Eltern mit Adoptivkindern kennenlernen, oftmals schwerst bindungstraumatisierte Kinder. Auch epigenetische Aspekte (4) mit einer möglichen Vulnerabilität (5) sollte man gelegentlich in Betracht ziehen, z. B. Familien mit Flucht, Migration, Armut z. T. über Generationen.


(1) Grundkenntnisse vermitteln diese Bücher:

„Bindung und Psychopathologie“ von Mary Ainsworth und Klaus E. Grossmann: Dieses Buch gilt als ein Klassiker der Bindungsforschung und beschäftigt sich mit der Bedeutung von Bindungserfahrungen für die psychische Gesundheit und psychische Störungen.

„Bindung – Eine sichere Basis“ von Karl Heinz Brisch: Der Autor stellt in diesem Buch eine umfassende Einführung in die Bindungstheorie vor und erläutert, wie sich Bindungserfahrungen auf die emotionale und soziale Entwicklung von Kindern auswirken.

„Das Bindungstrauma – Risiken und Schutzfaktoren für die Entwicklung von Kindern“ von Sabine Trautmann-Voigt: Dieses Buch beschäftigt sich mit den Auswirkungen von traumatischen Bindungserfahrungen auf die Entwicklung von Kindern und bietet einen Überblick über Schutzfaktoren, die dazu beitragen können, negative Folgen abzumildern.

(2) Das Konzept des „Arbeitsmodells“ in der Bindungstheorie bezieht sich auf die inneren Arbeitsmodelle, die Menschen aufgrund ihrer Erfahrungen mit Bezugspersonen entwickeln. Diese Arbeitsmodelle bestehen aus Erwartungen und Annahmen darüber, wie Beziehungen funktionieren und wie man auf andere reagieren kann oder sollte.

Das Arbeitsmodell wird im Laufe der Zeit durch wiederholte Interaktionen zwischen einer Person und ihren Bezugspersonen aufgebaut und kann sich im Laufe des Lebens verändern. Eine Person mit einer sicheren Bindung hat in der Regel ein Arbeitsmodell, das davon ausgeht, dass Beziehungen auf Vertrauen und Unterstützung basieren und dass sie in der Lage sind, in schwierigen Situationen Unterstützung von anderen zu erhalten. Eine Person mit einer unsicheren Bindung hingegen kann ein Arbeitsmodell haben, das davon ausgeht, dass Beziehungen unsicher und unvorhersehbar sind, und dass sie sich selbst schützen müssen, um Verletzungen oder Ablehnung zu vermeiden.

Das Arbeitsmodell beeinflusst, wie Menschen auf Beziehungen reagieren und welche Strategien sie verwenden, um ihre Bedürfnisse zu erfüllen. Es kann auch Auswirkungen auf ihre zukünftigen Beziehungen haben, da sie wahrscheinlich ähnliche Muster in ihren Beziehungen wiederholen werden. Durch die Identifizierung und Überarbeitung ihrer Arbeitsmodelle können Menschen lernen, ihre Beziehungen zu verbessern und gesunde Bindungen aufzubauen.

(3) Die Bindungstheorie besagt, dass eine sichere Bindung zu einer Bezugsperson eine wichtige Voraussetzung für die emotionale und soziale Entwicklung von Kindern ist. Eine sichere Bindung bietet dem Kind eine Basis, von der aus es die Welt erkunden und neue Erfahrungen machen kann. Wenn ein Kind sich sicher an seine Bezugsperson gebunden fühlt, fühlt es sich auch sicher genug, um neue Situationen zu erkunden und auszuprobieren.

Die Bindung und die Exploration sind demnach eng miteinander verbunden, da sie sich gegenseitig beeinflussen. Eine sichere Bindung schafft die Grundlage für die Exploration, während die Exploration wiederum dazu beiträgt, dass das Kind neue Erfahrungen macht und seine Kompetenzen erweitert.

Allerdings kann es auch zu einem Konflikt zwischen Bindung und Exploration kommen, wenn das Kind sich unsicher fühlt oder Ängste hat. In diesem Fall kann es sein, dass das Kind sich eher an seine Bezugsperson klammert und weniger bereit ist, neue Dinge auszuprobieren. Eine sichere Bindung kann jedoch dazu beitragen, dass das Kind seine Ängste überwindet und wieder neugieriger wird.

Insgesamt lässt sich sagen, dass Bindung und Exploration eng miteinander verbunden sind und dass eine sichere Bindung eine wichtige Grundlage für eine gesunde Exploration und Entwicklung von Kindern darstellt.

(4) Bernhard Kegel. Epigenetik: Wie unsere Erfahrungen vererbt werden. Köln 2009

(5) Die Epigenetik beschäftigt sich mit Veränderungen der Genexpression, die nicht auf Veränderungen der DNA-Sequenz selbst zurückzuführen sind. Das bedeutet, dass sich Gene auf unterschiedliche Weise ausprägen können, abhängig von äußeren Faktoren wie Umweltbedingungen und Lebensstil.

Bei Menschen mit Vulnerabilität, zum Beispiel aufgrund von psychischen Störungen, wurde in einigen Studien gezeigt, dass epigenetische Veränderungen eine Rolle spielen können. So haben Untersuchungen gezeigt, dass bei Menschen mit Depressionen oder Angststörungen bestimmte Gene anders reguliert sind als bei Menschen ohne diese Störungen. Diese epigenetischen Veränderungen können dazu beitragen, dass Menschen mit vulnerablen Konstitutionen anfälliger für psychische Störungen sind oder dass sie auf bestimmte Therapien anders ansprechen als andere.

Es ist wichtig zu betonen, dass epigenetische Veränderungen nicht zwangsläufig dauerhaft sind und dass sie auch durch positive Erfahrungen und eine unterstützende Umgebung beeinflusst werden können. Das bedeutet, dass Menschen mit vulnerablen Konstitutionen auch durch gezielte Interventionen unterstützt werden können, um ihre psychische Gesundheit zu fördern.