11.3 bezogene Individuation: Jugendliche und Eltern
Jeder von uns wurde bei der Geburt „abgenabelt“. Ab diesem Geburtstagstag beginnt die sprichwörtliche Abnabelung von den Eltern und vom Elternhaus. Mit jedem weiteren Tag, mit jeder Woche, jedem Monat, jedem Jahr werden, wurden wir immer eigenständiger und selbständiger und entwickelten uns zu einem ganz eigenständigen Individuum. Wir durchlaufen den Prozeß der „Individuation“.
Gäbe es aber nur diesen Aspekt, würden wir darauf zusteuern, vor lauter Individuation den Kontakt zu unserer Herkunftsfamilie aus den Augen zu verlieren. Das bezeichnen wir als Über-Individuation. Damit dieses aber nicht passiert, bedarf es des gegenläufigen Aspektes der Bezogenheit.
Entsprechend hat man diesem Gesamtpaket den Begriff der „bezogenen Individuation“ gegeben.
Es kann aber auch nicht nur ein Zuviel an Individuation geben, auch die gegenteilige Übertreibung ist denkbar – die Übertreibung der Bezogenheit. Das wären z. B. Töchter oder Söhne, die man als 16jährige immer noch wie 10jährige behandelt, indem man sie morgens weckt, deren Zimmer aufräumt, das morgendliche Butterbrot schmiert, jeden Tag nach den Hausaufgaben fragt, jede Minute wissen will, was sie tun und wo sie sich befinden.
Jeder Lebensmonat ist geprägt von einem nächsten Schritt der Individuation des Kindes und bedarf der Entwicklung eines neuen Schrittes der Bezogenheit.
Jeder Lebensmonat ist geprägt von einem nächsten Schritt der Individuation der Eltern und bedarf der Entwicklung eines neuen Schrittes der Bezogenheit der Eltern.
Nicht nur die Kinder nabeln sich mit zunehmendem Alter ab. Auch die Eltern erhalten weitere Freiräume für das eigene Leben und für ihre Paarbeziehung und sollten sich um Gestaltungsmöglichkeiten kümmern, in denen die Kinder nicht mehr bzw. anders vorkommen.
Ein Beispiel: Der 15jährige Max wird von seinem Schulfreund Dennis zum Geburtstag eingeladen. Max Eltern bitten ihn, um 22 Uhr wieder zu Hause zu sein. Vor lauter Feiern hat Max die Zeit nicht wirklich im Blick. Plötzlich stellt er fest, es ist 5 vor 10 und der Bus ist weg.
Eine angemessene Reaktion der bezogenenen Individuation von Max wäre es, die Eltern anzurufen, zu sagen, es täte ihm leid, die Zeit aus den Augen verloren zu haben und sein Freund Dennis habe angeboten, bei ihm übernachten zu können.
Eine angemessene Reaktion der bezogenenen Individuation der Eltern wäre es, Max zu sagen, daß sie sich freuen, daß er Spaß hatte und ihn zu bitten, kurz mit Dennis Eltern telefonieren und das Weitere absprechen zu können.
Sie unterstellen Max keine Nachlässigkeit oder gar geplanten Eigennutz, sondern signalisieren: Du kommst jetzt in ein Alter, in dem man sich auch mal erlauben kann, einfach nur Spaß zu haben, ohne auf die Uhrzeit achten zu müssen. Genieße das. Und schön, daß Du dann aber auch eine angemessene Verantwortung zeigst, indem Du anrufst, Dich entschuldigst und einen Lösungsvorschlag machst.
Würden die Eltern mit dieser Entspannheit und Gelassenheit reagieren, wären Sie ein gutes Vorbild für einen neuen bezogenen Individuationsschritt.
Tagtäglich, wöchentlich, monatlich entwickeln Kinder und Jugendlichen immer neue Schritte und Fähigkeiten der Selbständigkeit. Und Eltern müssen das auch entwickeln und lernen, damit zurechtzukommen. Beide Seiten, Kinder wie Eltern, sollten solche Schritte der Eigenständigkeit = Individuation und die dazu passenden neuen Schritte der Bezogenheit zueinander entwickeln.
Sendepause und bezogene Individuation
Mit der 14tägigen Sendepause ziehen sich die Eltern aus der Kommunikation mit Max und damit aus der Beziehung zu ihm weitgehend heraus. Sie setzen eine künstlich gestaltete Individuation in Szene.
Damit entsteht kybernetisch ein Beziehungsvakuum, das nach Geschlossenheit drängt und Anziehungskraft frei setzt. Die familiäre Homöostase gerät aus dem Gleichtgewicht. Jetzt wird es spannend, weil Max diese Anziehungskräfte zu spüren bekommt. Mit welcher Bezogenheit wird Max reagieren? Das ist die 2. große diagnostische Frage in diesem Setting:
Wir wollen im Coaching mit der Inszenierung der Sendepause wissen, wie Max auf den kommunikativen Rückzug (Individuation) der Eltern reagiert.
Drei Möglichkeiten wird es geben:
- Max macht weiter wie bisher und tut so, als habe es die Ankündigung der Sendepause und das veränderte Elternverhalten nicht gegeben.
- Max macht mehr desselben als bisher, d. h. er übertreibt seine bereits überwertige Individuation und steigert sie noch.
- Max füllt das entstandene Beziehungsvakuum, indem er vermehrt auf die Eltern zukommt. Max reagiert mit Bezogenheit.
(1) mehr dazu in Helm Stierlin, Delegation und Familie, Frankfurt 1982, S. 60 ff: Familientherapeutische Aspekte der Übertragung und Gegenübertragung und derselbe in Das erste Familiengespräch, Stuttgart 2001, S. 23 ff: Bezogene Individuatio