11.1 Aufbau einer Sprechhemmung bei den Eltern

Ratsuchende, ob Eltern oder PartnerInnen, haben, wenn sie in Beratung kommen, in der Regel versucht, mit Max zu reden, daß er die Suchtpräsenz aufgeben möge. Sie haben auf die unterschiedlichsten Weisen geredet – wochenlang, monatelang, manchmal jahrelang. Sie haben nicht nur über die Suchtpräsenz geredet, sondern auch über viele andere Lebensbereiche von Max: Ordnung, Sauberkeit, Schule, Ausbildung, Freunde, Zeiten der Ab- und Anwesenheit etc. zu denen die Eltern oder die Partnerin andere Vorstellungen als Max hatten.

Obwohl Max den Eltern bzw. der Partnerin schon mehrfach gesagt hat, sie würden mit ihrem Reden nerven, haben es die Eltern fortgeführt, weil sie keine Alternative wußten. Eltern denken, sie müßten auch noch in der Pubertät aktiv ihren Max beeinflussen und vor möglichen Gefahren warnen. Bitte mach dieses, bitte laß jenes. Wir nennen dieses Elternverhalten Curling oder Helikopter-Eltern. Wie in der Eissportart mit dem Besen der Stein in seiner Geschwindigkeit und Richtung beeinflußt werden soll, versuchen Eltern auch Max zu beeinflussen. Eltern übersehen dabei oder wollen es nicht wahr haben, daß sie Max nicht mehr hindern können, das zu tun was er will. Eltern oder Partnerinnen versuchen es immer wieder, je besorgter desto intensiver und länger.

Partner oder Eltern haben die unterschiedlichsten Motivationen, mit denen wir uns im Coaching jedoch nicht beschäftigen. Zum einen würde es wertvolle Zeit dauern, uns mit den Motiven zu beschäftigen und dann wäre auch noch offen, ob das Erforschen und Bearbeiten der Motive zur gewünschten Verhaltensänderung bei den Ratsuchenden führen würde.

Vielmehr ermuntern wir die Eltern mit viel Zuversicht zu einem Experiment, das nur 14 Tage dauert und mit dem wir viel in Erfahrung bringen können. Dieses Experiment nennen wir die „Sendepause“:

Den passenden Zeitpunkt wählen:

Zu einem Zeitfenster, in dem es „normalen“ Familienalltag gibt (nicht bei Feier- und Geburtstagen, anstehenden Prüfungen, Urlauben etc.), werden die Eltern das Reden einstellen. Kein Wort mehr. 100 % Schweigen. Eltern fragen dann immer wieder: „Auch kein guten Morgen oder Guten Tag?“ Nein, 100 % Schweigen. Klappe halten.

Max kennt seine Eltern 15, 20 oder 25 Jahre lang. Er weiß genau, wie seine Eltern „ticken“.

Die Eltern stellen jegliches Sprechen für 14 Tage ein. Die nonverbale Kommunikation, also die Körpersprache, wird reduziert:
Mimik: zu nichts, aber auch gar nichts, was mit Max zu tun hat, wird eine Miene verzogen. Max soll auch an der Mimik der Eltern nicht erkennen können, wie sie auf ihn reagieren.
Gestik: Das gleiche gilt für die übrige Körpersprache. Kein Schulterzucken, kein Kopfschütteln – nichts!

Eine Ausnahme gibt es: Wenn Max trotz Ankündigung er Sendepause auf die Eltern zukommt und etwas besprechen möchte, geben die Eltern ein Stop-Zeichen mit einer Hand und sagen nur das Wort „Sendepause“.

Die Erfahrung zeigt, daß nahezu alle Eltern, die 14 Tage durchgehend diese Sendepause durchführen, eine zuverlässige Hemmung vor impulsivem Sprechen entwickelt haben. Sie können in jeder künftigen Situation erst nachdenken und dann erst sprechen.

Zu Erinnerung: die Eltern können nicht Max ändern, aber sie können das Beziehungsmuster zwischen ihnen und Max ändern. Damit kann Max nicht so weitermachen wie bisher, sondern muß sein Verhalten dem neuen Muster anpassen. Diese Wirkung wird jedoch nur erreicht, wenn das neue Muster durchgängig gezeigt wird. Offenbar zeigt eine Mischung aus dem alten und dem neuen Muster keine Wirkung auf Max. Er wird nur ein komplett neues Muster allmählich realisieren und erkennen, und er wird darauf erst anders als gewohnt reagieren, wenn dieses mindestens 3 Monate (Erfahrungswert) von den Eltern konsequent praktiziert wird.

Die Hemmung vor spontanem, impulsivem, zu schnellem, unüberlegtem Sprechen und Reagieren ist die Grundlage für alle weiteren Interventionen. Nur mit Hilfe dieser Sprechhemmung können wir mit den Eltern weitere wirkungsvolle Schritte unternehmen.

Die Eltern sind verständlicherweise zunächst skeptisch, was in diesen 14 Tagen zu Hause passieren wird. Wie wird Max reagieren? Wie wird es mir als Vater und Mutter gehen? Werde ich das schaffen?

Um es vorwegzunehmen: die Mehrzahl der Eltern stellt schon nach wenigen Tagen eine große Erleichterung fest. Zum einen fällt ihnen das Schweigen leichter, als auf Max mit Reden einzuwirken. Zum zweiten passiert kaum etwas von dem, was befürchtet wurde.