Praxis diagnostischer Einschätzung – Netzwerkarbeit Praxisbeispiel

Beispielhaft möchte ein Projekt erwähnen, das Netzwerkarbeit zu seinem zentralen Baustein gemacht hat. Wir hatten in einer Weiterbildungsgruppe 2 Kolleginnen, die in einer Großstadt die Aufgabe erhielten, ein Projekt zur Verselbständigung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen aufzubauen. Das Jugendamt registrierte zu jener Zeit eine Vielzahl an jungen Leuten, die entweder aus dem Elternhaus hinausgeworfen waren oder die dorthin aufgrund massiver Konfliktlagen nicht mehr zurück wollten. Wir machten die Kolleginnen mit der Netzwerkarbeit bekannt. Daraufhin setzten sie sich mit ihren jungen Klienten* (z. B. Max) hin, nahmen sich ein Flipchart, zeichneten Max in die Mitte und drumherum jene Personen (z. T. auch Institutionen mit deren Vertretern), zu denen er Kontakt hatte.

Dann erfolgte die Erweiterung, manchmal auch ein Neuaufbau, des Netzwerkes:

Die Kollegin und Max suchten ein Wohnung bzw. ein Appartement. Über Kontakte der Vermieter, Kirchengemeinden oder Vereine wurde ein Pate in der Nachbarschaft gesucht als Ansprechpartner für wöchentliche Updates mit Max. Mancher Vermieter stellte sich selbst auch zur Verfügung. Diese Ehrenamtlichen wurde in einer Gruppe zusammengefaßt und erhielten fachliche Begleitung.

Max brauchte eine Bankverbindung: die Kolleginnen knüpften im Vorfeld Kontakt zu einer Bank, Sparkasse und einem bestimmten Kundenberater im Stadtteil. Sie machten mit Max dort einen Termin, den sie gemeinsam wahrnahmen. Im Gespräch erhielt Max die Zusicherung, daß genau dieser Kundenberater für ihn zuständig. Er bekam dessen Visitenkarte mit der Telefondurchwahl, etc.

Die weitergehende Netzwerkentwicklung bestand darin, konkrete verläßliche Personen und Ansprechparter in den unterschiedlichsten Lebensbereichen zu finden und den Beziehungsaufbau zu begleiten: einen bestimmten Lehrer bzw. Ausbilder, Personen in den Hilfeagenturen Jugendamt – Wohlfahrtsverband – Beratungsstellen – Jobcenter – Arzt – Zahnarzt, Menschen in Vereinen oder anderen Einrichtungen zur Freizeitgestaltung, wohlgesonnene Verwandte, neue Freunde usw.

Alle diese alten und neuen Menschen erhielten einen Platz auf dem Flipchart mit der Netzwerkkarte und zwar nicht nur mit Namen, sondern mit allen Kontaktdaten wie Alter, Institution/Verein/Hilfeagentur, Anschrift, Telefon, Ansprechzeiten und falls vorhanden einer Visitenkarte und einem Foto.

Das alles wurde auf dem Flipchart geschrieben, gemalt, geklebt, platziert. Und das Flipchart erhielt in der neuen Wohnung einen Ehrenplatz.

In der Regel bestand für diesen Prozeß ca. 1/4 Jahr Zeit. In diesem Zeitraum wurden all diese alten Kontakte konsolidiert und die neuen aufgebaut und auf dem Flipchart dokumentiert – mitunter mit berührenden Geschichten und Situationen. Der zu früh und abrupt erfolgte Verlust der Herkunftsfamilie ging oft einher mit schmerzlichen Ausstoßungsdynamiken. Dieser ungewollten Individuation setzte das Projekt mit seinen Elementen der Bezogenheit kontruktive Beziehungen entgegen, die für die weitere Entwicklung der jungen Leute tragen sollten.

Anregung: Wenn Du Netzwerkarbeit oder auch nur die Netzwerkkarte in Deinem Arbeitsfeld nutzen möchtest, mach zunächst eine Selbsterfahrung, indem Du Dein persönliches Netzwerk auf einem Flipchart visualisierst mit all jenen Elementen, die ich oben genannt habe.

* Ich bitte um Nachsicht, daß ich die männliche Schreibweise benutzt habe. Das dient allein der leichteren Schreibweise und Lesbarkeit !


Literatur zur Netzwerkarbeit

Johannes Herwig-Lempp. Ressourcen im Umfeld. Die VIP-Karte. PDF

Rainer Schwing. Muster, die verbinden. Ein systemisches Handlungsmodell für die Praxis. PDF

Renate Zwicker-Pelzer. Netzwerkarbeit als systemische Intervention in Sozialer Arbeit. PDF

Gabriele Gerhardter. Netzwerkorientierung in der Sozialarbeit. Eine überblicksartige Zusammenstellung zu „Soziale Netzwerke“ und „Organisationsnetzwerke“. PDF

Peter Pantucek. Fragelisten zur Anamnese. PDF